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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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materiellen Gründen unmöglich, irgend etwas am gegenwärtigen Stand der Dinge zu ändern. Sie war minderjährig, ihr Vermögen gehörte ihr nicht. Doch sie konnte sich auch gar nicht vorstellen, das Haus zu verkaufen, um dann ein anderes zu erwerben. Sie hatte von ihrem Vater eine Art Ehrfurcht vor der Gewohnheit geerbt, die sie in diesen Mauern gefangenhielt, inmitten all dieser Gegenstände, von denen jeder einzelne sie an eine trostlose Kindheit und eine quälende Jugend erinnerte. Natürlich konnte sie ihre Anordnung verändern, die Sessel und Stühle umstellen, aber sie mußte sie um sich haben.
    Sie bekam Angst. In dieser Lähmung, von der sie befallen war, folgten die Gedanken völlig wirr aufeinander, was sie nur noch grauenvoller machte. Sie fragte sich plötzlich, ob sie nicht einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen sei und ob Madame Legras sie wirklich besucht habe. Ihr war, als höre sie noch einmal das Knirschen der beiden Gartentore, die aufgingen und zugeschlagen wurden. Das hatte sie doch nicht träumen können. Und folglich auch alles übrige nicht. Die Worte ihrer Nachbarin fielen ihr wieder ein, jedoch mit einem Tonfall, den sie in ihrem Munde nicht gehabt hatten: jetzt fehlte der Haß, sie klangen mehr wie Warnrufe, wie ein: »Fliehen Sie!«, das in der Stille widerhallte. Auf einmal spürte sie ihre Kräfte zurückkehren und stand auf.
    Ihre erste Reaktion war, an Marie Maurecourt zu schreiben, sie wolle sie sehen. Sie ging in den Salon, kritzelte eine kurze Nachricht von vier Zeilen und steckte sie in einen Umschlag.
    »Was hat das für einen Sinn?« fragte sie sich laut, nachdem sie die Adresse geschrieben hatte.
    Sie hielt inné und fügte dann leiser hinzu:
    »Ich kann ihr doch nicht sagen, daß ich meinen Vater umgebracht habe.«
    Diese Worte, die aus ihrem Mund kamen, erfüllten sie mit Entsetzen. Sie schlug die Hände vors Gesicht.
    »Es ist nicht wahr«, sagte sie.
    Hastig ließ sie die Hände sinken und sagte noch einmal, als ob ihr jemand widersprochen hätte:
    »Es ist einfach nicht wahr.«
    Rasende Wut packte sie; bisher war sie zu erschöpft gewesen, zu erschrocken, um all das Demütigende in Madame Legras' Verhalten zu begreifen. Jetzt spürte sie ihre Kräfte wiederkommen, und das Blut schoß ihr ins Gesicht. Einen Augenblick lang redete sie sich ein, diese Frau habe sie verleumdet, und ihr Zorn wuchs. Sie schaute zur Villa Louise hinüber und ballte die Fäuste; ihr Blick verfinsterte sich.
    »Wenn du mir jemals wieder unter die Augen kommst«, murmelte sie. »Dreckige… Dreckige…«
    Sie suchte nach einem Wort. Und ihr fiel ein Ausdruck ein, den ihr Vater einmal gebraucht hatte.
    »Hündin, ja, Hündin, dreckige Straßenhündin!«
    Mit einem jähen Ruck richtete sie sich auf und seufzte, als befreie diese Beschimpfung sie von ihrer Angst. Schließlich zuckte sie die Schultern.
    »Außerdem«, murmelte sie, als Antwort auf etwas, was sie sich in Gedanken sagte, »weiß sie genau, daß ich sie in der Hand habe. Letztlich hängt es nur von mir ab, ob die ganze Stadt mit dem Finger auf sie zeigt und sie fortgehen muß. Ich brauchte mich nur mit ein paar Leuten hier zu unterhalten, und eine Woche später wäre alle Welt über sie im Bilde.«
    Sie blickte auf den Brief, den sie soeben geschrieben hatte.
    »Mademoiselle Maurecourt zum Beispiel«, dachte sie.
    Sie beschloß, auf alle Fälle ihren Brief Marie Maurecourt bringen zu lassen. Wahrscheinlich konnte sie sich der alten Jungfer nicht anvertrauen, aber andererseits konnte sie auch nicht mehr allein hier bleiben. Sie mußte jemanden sehen, mit jemandem sprechen.
    Nun schob sie ihren Stuhl zurück, stand auf und begann, im Zimmer hin und her zu gehen. Sie hatte noch ihre weiße Schürze umgebunden, und das im Nacken verknotete Tuch auf ihrem Kopf ließ sie wie eine Bäuerin aussehen. Als sie am Spiegel vorüberkam, betrachtete sie sich und fand, sie sei etwas magerer geworden und wirke kränklich; die Trauerkleidung verschlimmerte das Ungesunde und Bleiche ihrer Gesichtsfarbe. Sie stützte sich auf den Kamin und prüfte ihr Gesicht und die Schatten um die Augen, unter den Wangenknochen; sie entdeckte kleine Fältchen, die sich an den Lidern gebildet hatten, feiner als Haare und kaum wahrnehmbar. Sie runzelte die Brauen. Dann wandte sie den Blick ab und schien angestrengt nachzudenken. Die Verwirrung, in die Angst und Zorn sie gestürzt hatten, ließ allmählich nach und wich einer Schwermut, die noch viel schrecklicher

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