Advocatus Diaboli
wenn die Kirche Kinder benutzte, die mit Wundergaben gesegnet waren! Die Kirche besäße mit ihnen hervorragende Werkzeuge. Erwachsene weigerten sich womöglich, bei solchen Lügenmärchen mitzuspielen, aber Kinder …?
Benedetto erschauerte angesichts dieser Möglichkeit.
Er war überzeugt, dass vor ihm der arme Rainerio schon die gleiche Angst empfunden hatte.
Auf der Rückseite eines Blattes, auf dem die von Rainerio entliehenen Bücher aufgelistet waren, hielt Benedetto die Überlegungen fest, die ihm durch den Kopf gingen.
Diese Notizen ließ er wohlweislich im Kästchen von Schwester Constanza zurück.
»Falls ich auch verschwinden sollte, dann wären diese Spuren nicht für alle Welt verloren«, sagte er halblaut vor sich hin.
Solche Maßnahmen ergriff er immer - wenn seine Nachforschungen sich in die Länge zogen oder zu unübersichtlich wurden, streute er Hinweise auf seine Verdachtsmomente. »Wenn Rainerio das nur auch getan hätte.«
Benedetto gab Constanza das Kästchen zurück; diese versprach ihm, es in der Bibliothek hinter den Werken des heiligen Benedikt von Anian zu verstecken.
Am Morgen darauf wurde Benedetto in seiner Herberge von dem Laienbruder aus der Registratur aufgesucht.
»Euer Fall wurde angenommen«, rief er aus. »Ihr werdet im Lateran erwartet, wo Ihr Eure Argumente ohne Zögern dem Erzbischof Moccha unterbreiten sollt. Er ist ein hoch angesehener
Relator causae und wird als Advocatus Dei Eure Sache vertreten. Meine Glückwünsche! Noch nie habe ich es erlebt, dass ein Gesuch so schnell zu einer Vorladung nach Rom führte.«
Er überreichte ihm einen Passierschein für Rom und den Lateran sowie den abschließenden Bericht der Voruntersuchung in der Abtei von Pozzo und gab ihm die verschiedenen Dokumente aus Spalatro sowie die Phiole mit dem Blut zurück.
»Moccha. Ein Relator causae ?«, wiederholte Gui beinah ungläubig. »Das ist in der Heiligen Kongregation der Gegenspieler des Advocatus Diaboli.«
Benedetto Gui dachte sich, dass er den Fuchs weit über seine Erwartungen hinaus »ausgeräuchert« hatte und machte sich auf den Weg nach Rom.
IV
S eit zehn Tagen war Perrot in einer Zelle eingeschlossen, die nicht mehr als sechs Fuß Seitenlänge maß. Der Boden war kalt und feucht, es gab keine Fensteröffnung, und die einzige Lichtquelle war der Schein einer Fackel, der durch die Gitterstäbe der Tür drang. So konnte Perrot Tag und Nacht nicht unterscheiden. Vollkommene Stille umgab ihn, die Kerker nebenan mussten leer stehen.
Nur ein in eine weiße Kutte gehüllter Mönch kam zweimal am Tag, um ihm zu essen und zu trinken zu bringen und das schmierige Heu in der Mauerecke zu erneuern, in der das Kind seine Notdurft verrichtete.
Obwohl er in vollkommener Einsamkeit gefangen gehalten wurde, verspürte der Junge beinahe ununterbrochen diese körperlichen Anwandlungen, dieses Erschauern, das ihn überfiel, sobald seine Gabe als Heiler beansprucht wurde. Obgleich er nichts Auffälliges sah oder hörte, gewann er die Überzeugung, dass er beobachtet wurde. Doch so genau er auch die Mauern untersuchte, nirgendwo entdeckte er ein Loch oder einen Schlitz, durch das man ihm zusehen hätte können.
Am zwölften Tag öffnete sich die Tür wieder, und dieses Mal erschien Até. Ihr langes Haar hatte sie hochgesteckt und mit einem
flatternden Schleier bedeckt. Ihre Augen waren mit Khol bemalt, die Haut war mit Bleiweiß geschminkt und die Lippen mit leuchtendem Rot. Sie trug ein gefälteltes Gewand aus einer einzigen Stoffbahn, das mit einer Lederschnur gegürtet war, an deren Ende zwei Silberkugeln klingelten.
Gemeinsam verließen sie den Kerkerbereich und folgten einem Wandelgang, der mit weißen Steinen gepflastert und mit Silbereiben bepflanzt war. Das Tageslicht blendete Perrot; der Himmel war blassblau und wolkenlos. Der Weg endete an einem Klostergebäude mit einem überdachten Kreuzgang um den Innenhof, in dem ein Dutzend Mönche umhergingen. Der Garten war von Buchshecken eingefasst, in deren Mitte eine sprudelnder Brunnen thronte.
Nachdem das Kind eine Wendeltreppe erklommen hatte, befand es sich in einem Saal. Eine Wand nahm ein riesiges Glasfenster ein, das auf den Garten hinausging; ein Fenster aus purem Glas, ohne Farbpigmente, das die wichtigsten Kapitel der Passion darstellte. Hinter einem Schreibtisch saß ein gebrechlicher und knochiger Geistlicher. Beim Eintreten des Kindes und der Frau erhob er sich und begrüßte Até mit einem respektvollen Neigen des
Weitere Kostenlose Bücher