Aelita
lange unverwandt auf seine matte Scheibe, wo sie noch immer das Antlitz ihres Vaters sah, das allen Lebenden Schrecken einflößte.
»Das ist entsetzlich«, sagte sie, »das wird entsetzlich sein.« Sie erhob sich hastig, doch die Hände sanken ihr herab, und sie setzte sich wieder.
Die dunkle Unruhe bemächtigte sich ihrer in noch stärkerem Maße. Mit großen, geweiteten Augen betrachtete sich Aëlita im Spiegel. Die Unruhe brauste in ihrem Blut, sie ließ sie erschauern. ›Wie schlimm das ist, wie unnötig.‹
Ohne daß sie es wollte, erstand vor ihr, wie ein Traum dieser Nacht, das Gesicht des Himmelssohnes – groß, mit schneeweißem Haar, erregt, mit einer ganzen Reihe unfaßlicher Veränderungen, mit bald traurigen, bald zärtlichen Augen, die erfüllt waren von der Sonne der Erde, von der Feuchtigkeit der Erde, Augen, unheimlich wie neblige Abgründe, gewitterschwanger, Augen, die sie um den Verstand zu bringen drohten.
Aëlita schüttelte mit einem Ruck den Kopf. Ihr Herz klopfte angstvoll und dumpf. Über die Zifferntafel gebeugt, steckte sie den Stecker in eine Öffnung. Auf der Mattscheibe erschien, schlummernd in einem Sessel zwischen unzähligen Kissen, die Gestalt eines verhutzelten Greises. Das Licht aus dem Fenster fiel auf seine ausgedörrten Hände, die oben auf der flauschigen Decke lagen. Der Greis erbebte, rückte die herabgerutschte Brille zurecht, schaute über die Gläser hinweg auf den Schirm mit der Mattscheibe und lächelte mit dem zahnlosen Mund. »Was hast du mir zu sagen, mein Kind?«
»Meister, ich bin in Unruhe«, sagte Aëlita, »die Klarheit verläßt mich. Ich will das nicht, ich fürchte mich, aber ich kann nicht…«
»Verwirrt dich der Sohn des Himmels?«
»Ja. Mich verwirrt an ihm das, was ich nicht verstehen kann. Meister, ich habe soeben mit dem Vater gesprochen. Er war nicht ruhig. Ich fühle es: im Höchsten Rat ist ein Kampf im Gange. Ich fürchte, daß der Rat eine furchtbare Entscheidung treffen könnte: Hilf!«
»Du hast soeben gesagt, daß der Sohn des Himmels dich in Verwirrung bringt. Es wäre besser, wenn er ganz verschwände.«
»Nein!« Aëlita sagte es schnell, scharf und aufgeregt.
Der Greis wurde verdrießlich unter ihrem Blick. Seine runzligen Lippen bewegten sich hin und her. »Ich verstehe den Gang deiner Gedanken nicht recht, Aëlita, deine Gedanken sind zwiespältig und widerspruchsvoll.«
»Ja, ich fühle das.«
»Das ist der beste Beweis dafür, daß du im Unrecht bist. Der höchste Gedanke ist klar, leidenschaftslos und nicht widerspruchsvoll. Ich werde tun, was du willst, und mit deinem Vater sprechen. Er ist auch ein leidenschaftlicher Mann, und das kann ihn zu Handlungen führen, die mit Weisheit und Gerechtigkeit unvereinbar sind.«
»Ich werde hoffen.«
»Beruhige dich, Aëlita, und sei aufmerksam…. Schau tief in dich hinein. Worin besteht deine Unruhe? Aus den Tiefen deines Blutes erhebt sich ein uralter Rückstand: rotes Dunkel; das ist der Drang zur Verlängerung des Lebens. Dein Blut ist in Aufruhr…«
»Meister, er verwirrt mich mit etwas anderem.«
»Mögen die Gefühle noch so erhaben sein, mit denen er dich verwirrt: in dir erwacht das Weib, und du wirst untergehen. Nur die Kälte der Weisheit, Aëlita, nur die ruhige Betrachtung des unvermeidlichen Untergangs alles Lebenden – dieses von Fett und Lüsternheit durchtränkten Körpers, nur das Warten auf die Stunde, da dein bereits vollkommener, der Erfahrung des Lebens nicht mehr bedürftiger Geist fortgeht über die Grenzen des Bewußtseins, da er aufhört zu sein – nur das ist Glück. Du aber willst die Rückkehr. Fürchte diese Versuchung, mein Kind. Es ist leicht, zu fallen, es geht schnell, den Berg hinunterzurollen, aber der Aufstieg ist langsam und schwer. Sei weise.«
Aëlita hörte zu, ihr Kopf senkte sich.
»Meister«, sagte sie plötzlich und ihre Lippen zitterten, ihre Augen erfüllten sich mit Sehnsucht, »der Sohn des Himmels hat gesagt, daß sie auf der Erde etwas kennen, was höher ist als die Vernunft, höher als das Wissen, höher als die Weisheit. Aber was das ist, habe ich nicht verstanden. Und daher kommt meine Unruhe. Wir waren gestern auf dem See, der Rote Stern ging auf, er zeigte darauf mit der Hand und sagte: ›Er ist umgeben von der Aureole der Liebe. Menschen, die die Liebe erfahren haben, sterben nicht.‹ Meister, die Sehnsucht zerreißt mir die Brust.«
Die Brauen des Greises zogen sich zusammen, er schwieg lange; nur die Finger seiner
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