Äon - Roman
anderen, seine Kleidung zerrissen.
»Nein«, sagt Nikolaus. »Zwei Schiffe sind keine Lösung.«
»Wind und Segel werden uns schnell zum Heiligen Land bringen«, drängt Hubertus.
»Aber nicht uns alle.«
Auf den Decks stehen die Jungen und Mädchen und auch einige Erwachsene, und viele von ihnen winken und rufen, fordern Nikolaus auf, zu ihnen zu kommen. Aber wie kann er für sich einen Platz an Bord beanspruchen, wenn es bedeutet, dass jemand anders für ihn an Land bleiben muss?
An jenem Abend spricht Nikolaus zu den Tausenden, die ihm bis hierher gefolgt sind. Als die Sonne untergeht und ein kühlender Wind vom Meer die Hitze des Tages ersetzt, erklingt seine Stimme auf dem größten Platz von Pisa. Er steht auf einem Podium, und sein Blick wandert über die Menge, über Gesichter, in denen er Hoffnung erkennt, aber auch Enttäuschung. Köln ist weit, das Ziel der Reise noch weiter entfernt,
und wer hier steht, zählt zu den Überlebenden. Viele andere sind tot, und jeder einzelne Tote hat Spuren in den Seelen jener hinterlassen, die noch immer bereit sind, den Weg fortzusetzen. Nikolaus fühlt die schwere Last der Verantwortung. Seine Worte sind es gewesen, die all diese Kinder veranlasst haben, ihre vertraute Welt zu verlassen. Die Toten wären noch am Leben, wenn er sie in Köln nicht überzeugt hätte, sich ihm anzuschließen. Und jene, die noch am Leben sind … Er weiß, dass er sie enttäuscht hat, so wie auch er enttäuscht ist. Der Gekreuzigte hat ihm versprochen, dass sich das Meer für ihn teilen würde, doch das Wasser ist in Genua ebenso wenig zurückgewichen wie hier in Pisa. Wie kann er weiterhin von seiner Mission überzeugt bleiben, wenn er an den Worten des Mannes zweifeln muss, der sie ihm gegeben hat?
Doch den Zweifel behält Nikolaus für sich, vergräbt ihn tief in seinem Innern, wo ihn niemand sieht, nicht einmal er selbst. Als er spricht, versucht er so überzeugend zu klingen wie in Köln, aber das fällt ihm nicht leicht. Zwei Schiffe, so betont er, sind nicht genug. Von Pisa aus, fügt er hinzu, ist es nicht mehr weit bis nach Rom, und wenn sie sich dort versammeln, muss Papst Innozenz III. ihnen Beachtung schenken. Ihre Zahl ist geschrumpft, und sie brauchen die Unterstützung der Kirche, die ihnen bisher versagt blieb.
Fast eine Stunde spricht Nikolaus zu den Seinen, aber der Applaus hält sich in Grenzen. Am nächsten Morgen brechen die beiden Schiffe mit Hunderten von Kindern auf, obwohl er sie gebeten hat, zu bleiben und mit ihm nach Rom zu ziehen.
Nur tausendzweihundert bleiben bei ihm, von zwanzigtausend, die vor fast vier Monaten, im Mai, von Köln aufgebrochen sind. In Rom stoßen die Hilferufe der jungen Kreuzfahrer auf das Schweigen des Papstes, und die Kinder ziehen weiter in Richtung Brindisi, doch unterwegs löst sich der Marschzug immer mehr auf. Viele verlieren die Hoffnung, bleiben in Dörfern und Städten zurück und versuchen, dort ein neues Zuhause
zu finden. Andere sterben am Wegesrand, durch Krankheiten oder erschlagen bei einem der häufigen Überfälle: Es ist eine gefährliche Zeit in Italien, denn die verfeindeten Staufer und Welfen führen einen blutigen Bürgerkrieg um die Thronfolge des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.
Ende September erreichen kleine Gruppen Brindisi, und dort endet der deutsche Kinderkreuzzug in Schrecken und Niedertracht. Ein Sklavenhändler, ein Norweger namens Friso, der den Kindern Hilfe verspricht, verkauft die Mädchen an Bordelle und die Jungen auf Sklavenmärkten an der nordafrikanischen Küste.
Nikolaus aber …
Sebastian bebte am ganzen Leib und spürte, wie Anatoli die Hände von seinem Kopf nahm.
»Es ist schlimmer, als ich dachte«, sagte der alte Russe.
33
Hamburg
D ie Morgensonne strahlte durch die breiten Fenster des Polizeipräsidiums, als Roland Singerer aus dem Lift trat und den Flur entlangging, begleitet von Computer-Rolf und Timoschenko-Irene. In Hamburg hatte ein schöner Tag begonnen, aber Singerer wusste, dass der Schein trog - das Unheil breitete sich immer schneller und immer weiter aus. Vor zehn Minuten hatte er die aktualisierte Liste der möglichen neuen Kontaminationen gesehen: Sie umfasste mehr als siebenhundert Namen, und seine Mitarbeiter schätzten die Dunkelziffer auf tausend weitere, allein im Großraum Hamburg. Die Krise drohte außer Kontrolle zu geraten, und Singerer verabscheute nichts mehr als Dinge, die sich nicht mehr kontrollieren ließen.
Deshalb war er jetzt in
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