Äon - Roman
und die Adresse eines Freundes genannt, der in Riga wohnte. Was steckte dahinter?
Unruhe erfasste ihn, als er darüber nachdachte, und plötzlich wünschte er sich nach Hamburg zurück, in seine Mansardenwohnung in Wilhelmsburg im Süden von Hamburg, zum Bier, das abends Entspannung brachte und dabei half, bestimmte Gedanken und Gefühle zu unterdrücken. Er war unglücklich gewesen, mit sich und der Welt in Hader, aber es war ein vertrautes Unglück gewesen, das seiner Existenz, so absurd es auch erscheinen mochte, Struktur und Halt gegeben hatte.
Jetzt war alles auf den Kopf gestellt, die Geschehnisse um ihn herum ebenso wie er selbst. Er hatte das Gefühl, in einen Strudel aus Ereignissen geraten zu sein, der sich immer schneller drehte, ihm immer mehr die Orientierung raubte. Kontrolle war ihm wichtig gewesen, die Möglichkeit, maßgeblichen Einfluss auf das eigene Leben zu nehmen, doch jetzt stellte sich immer deutlicher die Frage, woraus dieses Leben eigentlich bestand.
Sebastian drehte den Kopf und sah zu Anna, die mit geschlossenen Augen und zurückgelehnt neben ihm saß. So entspannt hatte ihr Gesicht eine besondere, anmutige Ruhe, die er sehr reizvoll fand.
Sein Blick kehrte zum Notebook auf den Knien zurück, und erneut betrachtete er das Gesicht eines Mannes, das er sich bereits eingeprägt hatte: schmal, mit auffallend tief in den Höhlen liegenden Augen und einer etwas zu großen Nase. Simon Krystek, ein Mörder, der sechs Kontaminierte getötet hatte. Eine der »Schlüsselpersonen«, wie Wolfgang sie nannte, von dem Sebastian beim Zwischenstopp in Mailand weitere Daten bekommen hatte, darunter auch die neueste Ausgabe von Zack! als PDF-Datei. Der reißerische Aufmacher lautete: »Das Grauen geht um in Europa«, und das Titelbild zeigte ausgerechnet Monika Derbach - wenigstens war Wolfgang so taktvoll gewesen, das Gesicht unkenntlich zu machen. In dem Artikel ging es um die vielen Verbrechen mit selbstzerstörerischen Elementen und die Anschläge, die offiziell Terroristen zur Last gelegt wurden. Die Ermordung von Kommissar Alexander Torensen fand ebenso Erwähnung wie die seines Assistenten Lothar Mehrendorf und die Explosion in der Wohnung eines »Verdächtigen« - der Name Simon Krystek fehlte im Artikel,
und Sebastian vermutete, dass Wolfgang ihn nicht nur aus Rücksicht auf die noch stattfindenden Ermittlungen weggelassen hatte.
Sebastian starrte auf das Bild, bis seine Augen schmerzten, und daraufhin schloss er sie. Als er kurze Zeit später die Lider wieder hob, griff Anna nach seiner Hand und drückte sie sanft. Er sah sie an, und für zwei oder drei desorientierende Sekunden erschien sie ihm völlig fremd, ebenso wie die anderen Menschen an Bord, und auch das Flugzeug. Er hatte das Gefühl, in eine Welt versetzt worden zu sein, die er nicht kannte, deren Rätsel er aber schnell lösen musste, wenn er in ihr überleben wollte.
»Was ist, Bastian?«, fragte Anna besorgt.
Er schüttelte erneut den Kopf. »Keine Ahnung. Ich … Manchmal weiß ich nicht mehr genau, wer ich bin, und wo ich bin.«
»Versuch dich zu entspannen. Möchtest du ein Beruhigungsmittel?«
»Nein, um Himmels willen, keine Tabletten. Nichts dergleichen.«
Erneut schloss er die Augen und versuchte, all die nagenden Gedanken aus sich zu vertreiben, aber er versuchte es so sehr, dass eine Anstrengung daraus wurde. Schließlich schaute er wieder aus dem Fenster und beobachtete die endlose weiße Wolkendecke.
Der Flughafen von Riga war einer von drei in Lettland und der wichtigste des Baltikums, aber er hatte nur eine Start- und Landebahn. Über der lettischen Hauptstadt riss die Wolkendecke auf, und Sebastian sah den Flughafen im Westen der Stadt, die
ein weißes Kleid trug - ein Flugbegleiter wies darauf hin, dass ein plötzlicher Kälteeinbruch in der Nacht Schnee gebracht hatte.
Der Pilot begann mit dem Landeanflug, und kurze Zeit später setzte die Maschine auf. Die Formalitäten im Flughafengebäude beschränkten sich auf ein Minimum, denn das Flugzeug kam aus dem Schengener Raum der EU, zu dem auch Lettland gehörte. Sie holten ihr Gepäck ab, und als sie nach draußen traten, stellte Sebastian fest, dass er eine viel zu dünne Jacke trug - die Temperatur lag knapp über dem Gefrierpunkt. Eine blasse Sonne stand am Himmel, schenkte aber nur wenig Wärme. Sie gingen zum Taxistand, an dem sich eine kleine Schlange gebildet hatte, brauchten dort aber nicht lange zu warten. Ein freundlicher Fahrer öffnete Türen
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