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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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ihnen lauter und andere leiser. Sie raunten alltägliche Dinge wie:
    Ich hoffe, er ist nicht böse, weil er so lange warten musste …
    Die Rechnung muss heute noch bezahlt werden …
    Warum quengeln die Kinder schon wieder …?
    Die Frau dort drüben sieht verdammt gut aus …
    Warum starrt mich der Mann so an …?
    Eine so lange Einkaufsliste … Habe ich auch wirklich an alles gedacht …?
    Andere Gedanken waren komplexer, bestanden aus Erinnerungen an vergangene Ereignisse und Planungen für zukünftige, formten komplizierte Strukturen aus Symbolen und Bildern, unterlegt von Emotionen aller Art. Dies war der Konzertsaal des menschlichen Denkens, und jeder Besucher sprach vor sich hin, während er gleichzeitig ein Musikinstrument des Gefühls spielte. Das Ergebnis war eine Kakophonie unglaublichen Ausmaßes, ein wildes, schallendes, dröhnendes Durcheinander, in dem sich Sebastian jedoch mühelos orientieren konnte. Er ließ den Blick hin und her gleiten, sah die Alte dort drüben auf dem Bürgersteig, die traurig daran dach te, wie lange sie ihre Enkel schon nicht mehr gesehen hatte, oder den jungen Mann, der auf einem Fahrrad strampelte und versuchte, von den rücksichtslosen Autofahrern nicht überfahren zu werden - seine Gedanken waren voller Zorn und wilder Flüche.
Wenn Sebastian die innere Perspektive veränderte, seinen Wahrnehmungswinkel, sah er das Gespinst der Beziehungen dieser Menschen untereinander: dünne Linien, bunt wie ein Regenbogen, die Männer, Frauen und Kinder miteinander verbanden, Knäuel innerhalb von Knäueln bildeten. Er glaubte, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um die fadenartigen Gebilde zu ergreifen, Knoten in sie zu knüpfen oder sie zu zerreißen.
    Und die Gebäude … Wenn er wollte, wurden sie durchsichtig, und dann sah er die einzelnen Wohnungen und Büros in ihnen, die Einrichtungsgegenstände, Fernseher in Wohnzimmern und Menschen auf Sofas und in Sesseln …
    Er hob die Hände und glaubte, Funken zu sehen, die sich langsam von seinen Fingerkuppen lösten und nach draußen schwebten, dort über die bunten Linien tanzten. Einer von ihnen erreichte einen Mann auf der anderen Straßenseite, gekleidet in einen dicken Mantel, auf dem Kopf ein pelzbesetzter Hut. Als der Funke ihn berührte, blieb er stehen, drehte den Kopf und schaute zum Taxi, und Sebastian sah genau seine Augen, obwohl ihn zwanzig oder mehr Meter von dem Mann trennten, und plötzlich wusste er, dass jener Mann in Drisiano gewesen war.
    Sebastian ließ die Hände sinken und wollte den Taxifahrer auffordern, sofort anzuhalten, doch etwas hinderte ihn daran. Er bemerkte den besorgten Blick, den Anna auf ihn gerichtet hatte - sie senkte langsam die Lider und hob sie dann wieder, und Sebastian begriff, dass es ein normales Blinzeln war, nur stark verlangsamt.
    Ihr Gesicht veränderte sich. Die Sorge darin wich Entsetzen, und ihre Augen … Er sah sich selbst in ihnen, aber dies war ein
anderer Sebastian, nicht der, der in diesem Taxi saß, durch die Wände der Häuser blickte und Gedanken hörte. Es war ein Sebastian, der etwas in der Hand hielt, einen spitz zulaufenden, glänzenden Gegenstand, und er hob ihn, als er sich Anna näherte. Sie riss die Augen auf, und ihre Lippen bewegten sich, aber sie saß nicht mehr neben ihm im Wagen, sondern stand … in einer Art Tunnel, mit Wänden aus … Knochen? Von irgendwoher kam mattes Licht, doch Sebastian wusste, dass er sie auch in völliger Finsternis gesehen hätte, ganz deutlich, in allen Einzelheiten, so wie in ihrem Schlafzimmer. Wie in Zeitlupe schüttelte sie den Kopf und hob abwehrend die Hände, aber er stieß sie mühelos beiseite und zielte mit … mit dem Dolch auf ihren Hals. Er sah die eigene Hand, darin das spitze Metall, beobachtete, wie es sich dem Hals näherte …
    Nein. Er musste stärker sein.
    Aber er saß hier im Taxi, und der Sebastian, der sich anschickte, Anna zu töten … Wie konnte er ihn erreichen? Wo befand er sich? Und wann befand er sich dort, wo auch immer?
    »Bastian!«
    Die Spitze der Klinge berührte den Hals, und ein kleiner Blutstropfen bildete sich dort, wurde größer, rann die Kehle hinab und zog eine rote Spur hinter sich her.
    Sebastian wollte springen, um sich selbst zu erreichen. Aber etwas hinderte ihn daran, ein Ding, das sich um seine Brust spannte. Er versuchte, es zu lösen und die letzte Barriere zu überwinden, eine widerspenstige Tür …
    »Bastian!«
    Anna schlug ihn, so heftig, dass seine Wange brannte. Sebastian

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