Äon - Roman
und Kofferraum eines roten Taxis und fragte in gebrochenem Englisch, wohin die Reise gehen sollte.
»Zum Reval Hotel Latvija«, sagte Sebastian und nahm zusammen mit Anna im Fond Platz. »Die Adresse lautet …« Er griff in die Innentasche seiner Jacke und holte einen Zettel hervor. »Elizabetes Iela 55. Wo ist das?«
»Im Stadtzentrum«, sagte der Fahrer. »Auf der anderen Seite der Düna, in der Nähe des Esplanade-Parks.« Er nickte ihnen zu, legte den ersten Gang ein und fuhr los.
Der Flughafen blieb schnell hinter ihnen zurück. Links bemerkte Sebastian mehrere große Hubschrauber und Flugzeuge sowjetischer Bauart, die offenbar zu einer Ausstellung gehörten oder Teil eines Museums waren. Sein erster Eindruck von Riga war der einer sehr grünen Stadt. Überall gab es Bäume, und fast sah es so aus, als wäre die Stadt innerhalb eines Waldes gewachsen. Die Gebäude am Stadtrand waren klein,
meistens ein-, höchstens zweistöckig, und Sebastian bemerkte, dass offenbar relativ viele von ihnen leer standen. Weiter stadteinwärts wurden sie etwas höher, hatten aber selten mehr als vier Stockwerke. Viele Häuser wiesen Verzierungen auf. In den Prospekten an Bord des Flugzeugs hatte Sebastian von neobyzantinischem, neogotischem und Jugendstil gelesen, aber solche Dinge interessierten ihn kaum. Er versuchte, einen allgemeinen Eindruck zu gewinnen, und je näher sie dem Stadtzentrum kamen, desto größer wurde seine Überraschung. Er hatte eine gewisse Tristesse erwartet, deutliche Erinnerungen an die Zeit unter russischer Herrschaft, doch stattdessen sah er eine moderne Stadt mit den üblichen Verkehrsproblemen einer Metropole.
»So viel Schnee …«, murmelte er und erinnerte sich an das Meer von Kalabrien, an eine warme Sonne über grauweißen Felshängen und ihr auf dem Wasser glitzerndes Licht.
»Dieser Krystek …«, sagte Anna. »Warum kommt er ausgerechnet hierher?«
Sebastian erzählte ihr von der Ausstellung alter Meister, die am nächsten Tag stattfinden würde. Er wies darauf hin, dass Simon Krystek im Auftrag eines Kunden der Galerie Pierce & Bruni dort für rund eine Million Euro einen Velázquez kaufen sollte. Als er die Hintergründe erklärte, wuchsen erneut seine Zweifel, wie schon im Flugzeug. Er kam sich wie eine Marionette vor, gelenkt von einem unsichtbaren Strippenzieher, der dies alles inszeniert hatte.
»Aber den Auftrag bekam Krystek, bevor er … sich veränderte, nicht wahr?«, fragte Anna.
»Ja.«
»Dieser Mann …« Anna überlegte laut. »Er hat andere Menschen
ermordet, die in Drisiano gewesen sind. Er gehört zu den Schlüsselpersonen, wie du mir erklärt hast, zu den Kontaminierten, die nicht in dem Sinne wahnsinnig geworden sind, sondern ganz bewusst handeln und dabei irgendein Ziel verfolgen.«
»Ja«, bestätigte Sebastian.
»Ich kann mir kaum vorstellen, dass eine solche Person hierherkommt, um eine Gemäldeausstellung zu besuchen. Wobei sie auch noch befürchten muss, wegen mehrfachen Mordes festgenommen zu werden.«
»Vielleicht geht es ihm um den Zaster«, sagte Sebastian. Der Taxifahrer bog auf eine breitere Straße ein, die völlig schneefrei war und auf der sie besser vorankamen. Er reagierte nicht auf das Gespräch; bestimmt sprach er kein Italienisch. »Fast eine Million Euro warten hier in Riga auf einem Bankkonto.«
»Und wie willst du ihn finden?« Anna deutete nach draußen. »Riga ist keine Riesenstadt, aber wie viele Menschen leben hier? Siebenhunderttausend?«
»Er hat ein Zimmer im gleichen Hotel gebucht wie wir. Im Reval Hotel Latvija.«
»Und du glaubst wirklich, dass er dort aufkreuzt?«
Sebastian zuckte mit den Schultern, sah aus dem Fenster und spürte eine Veränderung. All die Menschen … auf den Bürgersteigen, in Bussen und Straßenbahnen … Etwas veranlasste Sebastian, sich auf sie zu konzentrieren, auf die vielen Männer und Frauen, die dieser Stadt Leben gaben. Was dachten und fühlten sie? Jeder von ihnen hatte eigene Hoffnungen und Träume, trug Schmerz und Kummer mit sich, oder auch Freude und Zuversicht. Was ging ihnen durch den Kopf? Was bewegte ihr Herz?
Das Motorengeräusch des Taxis, das Brummen des Verkehrs auf der breiten Straße … das alles wurde zu einem leisen Summen im Hintergrund, zu einer akustischen Bühne, aus der, wie von einem geschickten Choreografen geplant, neue Geräusche kamen: flüsternde Stimmen, erst Dutzende, dann Hunderte und Tausende. Wenn sich Sebastians Blickrichtung veränderte, wurden manche von
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