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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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dann eine Minute. Plötzlich flackerten die Kerzenflammen, und der Junge drehte langsam den Kopf, sah Gabriel aus Augen an, die für ein oder zwei Sekunden völlig schwarz zu sein schienen. Seine Lippen teilten
sich, und ein seltsamer Laut kam aus dem geöffneten Mund - es klang nach einem leisen Zischen.
    Es hörte sich fast wie das Zischen einer Schlange an.
    Gabriels Hände blieben auf Knie und Oberarm. »Nenn mir deinen Namen«, sagte er ruhig. »Wer bist du?«
    »Ich … bin …« Es folgten klickende und kratzende Geräusche, die keinen Sinn ergaben. Die Flammen der geweihten Kerzen flackerten erneut, und das Zittern des Jungen wurde so stark, dass das Bett zu wackeln begann. Aus dem Augenwinkel sah Gabriel, dass Vittorio einen Schritt nähertrat.
    »Ich … bin …« Der Junge hob den Kopf und bemühte sich, einen Namen zu nennen. Er schien fast zu würgen. »Ich … bin …« Und dann blinzelte er und sah sich verwirrt um. »Wo bin ich hier? Was ist geschehen?«
    »Raffaele?«, fragte Gabriel sanft.
    »Ja. Wohin haben Sie mich gebracht?«
    »Keine Sorge, Raffaele. Du bist in Sicherheit und bei Freunden.«
    Der Junge seufzte.
    »Gott ist bei uns, Raffaele. Hier in diesem Zimmer. Und er ist in dir. Er hat dir die Kraft gegeben, zu heilen und Schmerzen zu lindern, erinnerst du dich?«
    »Ja …«
    »Leg dich wieder hin und schließ die Augen, Raffaele«, sagte Gabriel sanft und legte dem Jungen die Hand auf die Stirn.
    »Ja, gut so. Sei ganz ruhig und entspannt. Du hast nichts zu befürchten.« Er sprach in dem hypnotischen Tonfall, den er von Gabriele Amorth gelernt hatte. »Konzentrier dich jetzt, Raffaele. Konzentrier dich auf die göttliche Präsenz in deinem Innern …«

    Der Junge zitterte wieder, und Gabriel versuchte, diese Reaktion zu deuten. Ein Dämon aus der Satanas-Hierarchie wäre gezwungen gewesen, seinen Namen zu nennen, aber das Etwas in Raffaele hatte sich im entscheidenden Moment zurückgezogen. Natürlich vermieden es Dämonen, ihre Identität preiszugeben. Sie sträubten sich dagegen, denn die Nennung ihres Namens machte sie angreifbar. Aber in diesem Fall hatte das Etwas sich versteckt und dem Jungen ganz die Kontrolle über sich gegeben. Gabriel schloss daraus, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Fall von Besessenheit handelte.
    »Sag mir, was du siehst, Raffaele.«
    »Ich sehe …« Der Junge zuckte zusammen. »Ich sehe …« Er wimmerte. »Ich sehe … Tod und Verrat.« Plötzlich rannen ihm Tränen über die Wangen. »Zu Hunderten und zu Tausenden sterben sie. Krankheiten, die Strapazen … Sie alle glauben, mit der ganzen Kraft ihres Herzens, aber man hat sie verraten …« Er schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte.
    »Wie heißt du?«, fragte Gabriel. »Nenn mir deinen Namen.«
    »Ich heiße …« Der Junge unterbrach sich, ließ die Hände langsam sinken und setzte sich auf. »Sie ist hier«, sagte er mit viel tieferer Stimme, und seine Lippen deuteten ein Lächeln an. »Sie ist gekommen, um mich zu holen.«
    »Wer ist gekommen, Raffaele? Sag es mir.«
    Der Junge schwieg, lächelte noch immer und sah zur Tür.
    Ein dumpfes Pochen kam aus dem Raum, in dem die anderen Männer warteten. Etwas klirrte. »Vittorio, bitte sehen Sie nach.«
    Luca schaute hoch, und Gabriel bedeutete ihm mit einer knappen Geste, weiter zu rezitieren. Er wandte den Blick nicht von Raffaele ab und fragte sich, ob das andere Wesen in dem
Jungen ihn zu täuschen versuchte. »Wer immer du auch bist …«, sagte er und richtete die Worte an das fremde Element in Raffaele. »Wann hast du dich in ihm niedergelassen?« Er ließ die linke Hand auf der Stirn des Jungen, nahm die rechte vom Knie und ergriff damit sein Kruzifix. »Beantworte meine Frage. Ich befehle es dir im Namen Gottes!«
    Erneut drehte der Junge den Kopf, sah ihn an und erwiderte mit tiefer Stimme: »Von welchem Gott sprichst du?«
    Vittorio hatte unterdessen die Tür geöffnet. Gabriel hörte seine Stimme. »Wer sind Sie? Was haben Sie mit …«
    Es folgte ein Ächzen, das Gabriel veranlasste, den Blick von Raffaele abzuwenden. Vittorio wankte rückwärts ins Zimmer und hob die Hände zur Stirn, in der ein Dolch steckte. Er versuchte, ihn herauszuziehen, doch seine Kräfte schwanden zu schnell. Mit einem gurgelnden Laut kippte er zur Seite, prallte schwer auf den Boden und blieb liegen.
    Gabriel war mit einigen raschen Schritten bei seinem Assistenten und ging neben ihm in die Hocke, doch der leere Blick sagte ihm, dass jede Hilfe zu

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