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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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zum Bett trat und auf ihn herabblickte. Der Schein des Nachtlichts spiegelte sich in dunklen Augen wider, schien in ihnen zu brennen.
    Ein leises Ächzen kam von Kesslers Lippen, und plötzlich konnte er sprechen. »Wer sind Sie?«, brachte er hervor.
    Es waren die Augen eines Mannes, dachte er, doch einen Moment später wurden die Augen einer Frau daraus, etwas größer, die Brauen darüber dünner und weit geschwungen. Nur eine Sekunde verstrich, und wieder starrten die Augen eines Mannes auf Kessler herab, aber die eines anderen Mannes. Die Gestalt trat ums Bett herum, und Kessler stellte fest, dass sie ganz in Schwarz gekleidet war: schwarze Hose, schwarzes Hemd, darüber ein knielanger Mantel aus schwarzem Leder, das leise knarrte. Der Schein des Nachtlichts strich kurz über ein Gesicht, das nicht nur ein Gesicht war. Kessler beobachtete verblüfft, wie es sich ständig veränderte, immer neue Züge annahm. Nicht eine Person sah ihn an, sondern Dutzende.
    Und dann blitzte der Stahl eines Messers.
    Um Himmels willen, nein! , schrillte es hinter Kesslers Stirn, begleitet von Erinnerungen an Torensen und Monika Derbach.
    »Bitte, ich …«, krächzte er, und dann versagten ihm Stimmbänder und Zunge wieder den Dienst. Entsetzt beobachtete er, wie die Gestalt langsam näher kam, den Blick der veränderlichen Augen die ganze Zeit über auf ihn gerichtet. Sie beugte sich vor und hob das Messer, damit Kessler es ganz deutlich sehen konnte - die zwanzig Zentimeter lange Klinge silbern und
fleckenlos, die Schneide scharf -, drehte es dann so, dass die Spitze auf den Hals zeigte.
    Bitte!, gellten Kesslers Gedanken, doch außerhalb seines Kopfes blieb alles schrecklich still. Bitte nicht!
    Der Strom der Veränderungen im Gesicht des Fremden hielt inne, und wieder war es ein Mann, der den Blick auf ihn richtete, einen Blick kalt wie Gletschereis - ein Blick, der jedes noch so kleine Zucken in Kesslers Gesicht sah, als sich das Messer ganz langsam in den Hals bohrte, Millimeter um Millimeter.
    Kessler wollte um Hilfe schreien, sich bewegen und den Fremden fortstoßen, trotz Prellungen und Fraktur aus dem Bett springen und fliehen. Aber er blieb stumm und konnte sich nicht bewegen. Er war völlig hilflos, als die Klinge immer tiefer in seinen Hals schnitt, als Blut aus der Wunde quoll und in die Luftröhre geriet. Und während Kessler starb, während er an seinem eigenen Blut erstickte, beobachteten die Augen den Todeskampf und sahen alles , nicht nur die Verzweiflung im Gesicht des Sterbenden, sondern auch die schreienden Gedanken und kreischenden Emotionen seiner kollabierenden geistigen Welt. Wie ein Schwamm, der sich mit Wasser füllt, nahm der Fremde alles auf, ließ das Messer im Hals des Toten stecken, verließ das Krankenzimmer und ging im Flur an dem Mann vorbei, der mit einem Loch in der Stirn auf dem Boden lag. Kaum eine Minute später trat er aus dem Gebäude und verschwand in der Nacht.

31
    Rom
    I gnazio Giorgesi hatte das Gefühl für die Zeit verloren und wusste nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war. Er saß in einem fensterlosen Kellerraum, unweit des Vatikanischen Archivs. Licht kam nur von einer Neonröhre an der weißen, schmucklosen Decke und drei großen, flachen Computerschirmen auf dem Schreibtisch. Einer von ihnen zeigte Namen mit Jahres- und Ortsangaben sowie Abstammungslinien, eine schematische Darstellung, die an ein Flussdiagramm erinnerte. Die beiden anderen LCD-Bildschirme präsentierten mehrere Fenster mit Bildern von Pergamentfetzen, Keramikfragmenten und Teilen von beschrifteten Steintafeln: archäologische Funde, die größtenteils aus dem Nahen Osten stammten, aber auch aus der Türkei und Griechenland. Die jüngsten Objekte waren sechshundert Jahre alt, die ältesten mehr als dreitausend. Bei den verblassten Schriftzeichen darauf handelte es sich um Fragmente größerer Texte, und eine Übersetzung war entsprechend schwierig. Aber es ging Ignazio nicht um Kontextanalysen und dergleichen, mit der sich die Fachleute seit Jahrzehnten beschäftigten, sondern um Namen. Er versuchte, den Weg des Blutes und des Wissens von siebzehn Personen über fast drei Jahrtausende hinweg zu verfolgen.

    »Wie kommen Sie voran, Ignazio?«
    Die Stimme kam wie aus dem Nichts, und er drehte sich erschrocken um. »Heiliger Vater …« Er stand auf.
    »Bleiben Sie sitzen, Ignazio, bleiben Sie sitzen.« Der Papst trat näher und lächelte sanft. »Ich habe Sie mit einer wichtigen Aufgabe betraut, aber das heißt

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