Aerztekind
der elterlichen Wohnung (wo es ohnehin nur Präparate mit abgelaufenem Verfallsdatum gab) auch nichts Geeignetes zu finden. Also schlich ich in die Praxis, um nach einem angemessenen Betäubungsmittel zu suchen.
Die Schubladen im Behandlungszimmer meines Vaters sind seit jeher fein säuberlich gekennzeichnet. In der Schublade mit der Aufschrift MAGEN / DARM fand ich mehrere Fläschchen Iberogast, ein paar Packungen Lefax und lose herumfliegende Blister mit Rennie räumt den Magen auf. Unbrauchbar. Die HNO -Schublade ließ ich gleich links liegen und wandte mich der interessanteren zu: DEPRESSIONEN / PSYCHE . Dort fand ich zahlreiche Medikamente, die heute zum großen Teil nicht mehr auf dem Markt sind, was ich nur befürworten kann, denn die Beipackzettel lasen sich wie das Einmaleins der Notfallmedizin: »Präparat kann Brechreiz, Übelkeit, Herzstillstand, schwere Überempfindlichkeitsreaktionen, die mit starkem Blutdruckabfall, Blässe, Angst, schnellem und schwachem Pulsschlag, feuchtkalter Haut, Bewusstseinseintrübung, Zittern, Atmungsproblemen und plötzlichem Anschwellen von Haut und Schleimhaut einhergehen können, hervorrufen.«
Das war mir jetzt aber doch eine Nummer zu krass. Ich wäre ja gern dabei gewesen, bei so einem kleinen Trip auf Papas Kosten. Aber wollte ich mich wirklich der gefährlichen Körperverletzung schuldig machen, weil ich meinen Freunden ein Antidepressivum in der höchsten Dosierung andrehte? Nein.
Ich wollte mich aber auch nicht als uncoole Loserin abstempeln lassen, die es nicht mal schaffte, zwei vollkommen ungefährliche Halsschmerztabletten aus der Hausapotheke ihres Vaters mitgehen zu lassen. Also griff ich zu einer List. Ich nahm eine Packung Imodium akut und friemelte einen vollen Blister heraus. Dann holte ich ein Medikament aus der Schublade mit der Aufschrift DEPRESSION / PSYCHE , und zwar das mit dem längsten und am kompliziertesten gefalteten Beipackzettel. Ich wickelte ihn um den Blister mit den Durchfalltabletten und hoffte darauf, dass meine coolen, aber medizinisch vollkommen im Dunkeln tappenden Freunde nicht merken würden, dass Tablettenverpackung und Beipackzettel nicht zusammenpassten. Mit ein bisschen Glück konnten sie ohnehin nicht lesen, und die Fähigkeit des logischen Denkens fehlte ihnen im besten Fall sogar ganz. Alles nur eine Frage der Präsentation, dachte ich, die ich bestens trainiert darin war, meinen Eltern in einer dramaturgisch genau ausgezirkelten Spannungskurve nach der Eins in Musik die Fünf in Mathe unterzujubeln.
Ich lief zurück in die Wohnung, in der Hand meine präparierte Ausbeute.
»Hier«, sagte ich und reichte die Tabletten an einen der schweren Jungs weiter. »Voll das harte Zeug.«
»Hey, krasser Scheiß!«, rief Marcel begeistert. »Lass mal sehen, was ist das?«
»Ein Antidepressivum. Macht voll high«, mogelte ich.
Ich bezweifelte, dass er wusste, was ein Antidepressivum war. Klang auf jeden Fall gefährlich und damit gut. Tobi drückte ich den Beipackzettel in die Hand.
»Hat voll die heftigen Nebenwirkungen. Ist bestimmt total der Trip.« Gierig grapschte er nach dem Blister, aus dem sich Marcel bereits bedient hatte.
»Wie viel nimmt man da? Drei oder vier?«, fragte Tobi und schüttete sich die erste Handvoll wie eine Ladung Smarties in den Rachen.
»Ich hab beim letzten Mal nur zwei genommen«, sagte ich, und das war noch nicht mal gelogen, denn erst ein paar Wochen zuvor hatte ich eine heftige Magen-Darm-Grippe gehabt und von meinem Vater ein paar dieser Tabletten bekommen. Gegen den Durchfall halfen sie jedenfalls sehr gut. Aber das verschwieg ich an dieser Stelle diplomatisch.
Eine halbe Stunde später dämmerten meine beiden Kumpels auf dem alten Kindersofa in meinem Zimmer vor sich hin.
»Voll der krasse Scheiß«, murmelte Marcel und ließ die Lider dramatisch flattern.
»Hab noch nie so ein Hammerzeug genommen«, krächzte Tobi, und selbst aus der Entfernung zwischen dem Sofa und dem Bett, auf dem ich saß, konnte ich es in seinem Bauch ordentlich rumpeln hören.
Am nächsten Tag kamen beide nicht in die Schule. Erst Jahre später habe ich erzählt bekommen, dass in meiner Heimatstadt lange Zeit das Gerücht herumging, ich würde die härtesten Drogen der Gegend verteilen. Komischerweise wurde ich nie mehr von irgendjemandem danach gefragt.
5. Ein verdammt heißer Sommer
Eine meiner Erinnerungen an mein Leben als Ärztekind stammt aus dem Jahr, in dem ich, gerade vierzehnjährig, mit meiner besten
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