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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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Freundin Imke Kemper und ihrer Familie drei Wochen Urlaub auf Korsika gemacht habe. Der Urlaub war eine feine Sache, denn selbst wenn kleinere Geschwister nerven, keine sind jemals so schlimm wie die eigenen. Die Voraussetzungen waren also perfekt: Ich fuhr mit einer Familie, die nicht meine eigene war, in einen herrlich langen Sommerurlaub nach Frankreich, musste mich nicht mit meinen beiden kleinen Schwestern rumschlagen und war mit meiner besten Freundin zusammen. Imke und ich hatten sogar ein eigenes Zimmer! Schon Wochen vorher freute ich mich auf nächtliche Ausbrüche aus der Ferienhaussiedlung, heimliche Partys am Strand und hingebungsvolle Küsse mit leidenschaftlichen Franzosenjungs – das konnte nur super werden!
    Doch kaum auf Korsika angekommen, wurde ich von einer bleiernen Müdigkeit überwältigt. Ich schlief die ersten drei Tage beinahe durch. Am vierten Tag war ich endlich in der Lage, das Haus zu verlassen, und schleppte meinen ermatteten, pubertierenden Körper zum Strand. Leider kam ich nicht besonders weit, da ich noch vor der Ankunft am Meer unter einer Pinie Rast machen musste. Ich war vollkommen außer Atem. Am Ende meiner Kräfte und im Bewusstsein, dass irgendwas mit mir nicht in Ordnung war, warf ich mich schließlich die letzten Meter Fuß um Fuß an den Strand. Dort blieb ich zwei Stunden unter dem Sonnenschirm liegen, erschöpft und erschlagen von der Anstrengung. Imke fragte mich, ob ich mit ihr ins Wasser wolle. Ich verneinte. Imke fragte mich, ob ich mit ihr ein Eis holen wolle. Ich verneinte. Imke fragte mich schließlich nichts mehr, und ich konnte nicht anders, als ihr dankbar dafür zu sein.
    In der Nacht fror ich bitterlich. Von Schüttelfrostattacken heimgesucht, schlurfte ich durch das Ferienhaus und raffte alle Decken zusammen, die ich finden konnte. Ich ging dabei sogar so weit, dass ich in das Schlafzimmer von Herrn und Frau Kemper einbrach und ihnen die Tagesdecke, die vom Bett auf den Boden gerutscht war, klaute.
    Am nächsten Tag war der Schüttelfrost weg, und mir brach wieder bei jedem Schritt der Schweiß aus. Mir war so heiß, dass ich mich kaum bewegen konnte. Trotzdem hievte ich mich an den Strand, die Gedanken an die feurigen Franzosen und literweise Eis am Stiel mobilisierten die letzten Kräfte. So ging das mehrere Tage, nach einer Woche traute ich mich erstmals ins Wasser und ertrank fast dabei. Als ich mich nach nur zehn Minuten aus den reißenden Fluten gekämpft hatte (zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass wir nicht etwa an der wellenreichen West-, sondern an der familienfreundlichen und strömungsarmen Ostküste residierten), sank ich ermattet auf mein Handtuch und bewegte mich für den Rest des Tages keinen Zentimeter mehr.
    Als wir an einem Tag die Festung von Bonifacio, einer Stadt im Süden der Insel, besuchten und ich vor der, wie es mir schien, kilometerlangen Treppe den Berg hinauf stand, brach ich in Tränen aus und beschloss, im Auto auf die anderen zu warten. Die Kommentare der anderen machten es nicht besser.
    »Komm schon, Caro, versuch es wenigstens«, versuchte Imke, mich aufzuheitern.
    »Caro ist zu diiick, Caro ist zu diiick!«, sprangen Imkes Schwestern gut gelaunt und braun gebrannt um mich herum. In diesem Moment beschloss ich, dass es doch besser war, mit eigenen Geschwistern in Urlaub zu fahren, weil man die wenigstens schlagen konnte, ohne dass man dafür ernsthaft zur Rechenschaft gezogen werden konnte (Schutzgelderpressung war damals noch das Harmloseste, was man mit seinen jüngeren Geschwistern anstellte).
    Ich setzte mich über die gut gemeinten Ratschläge und motivierenden Aufforderungen hinweg und ließ mir den Autoschlüssel geben. Und beim Weggehen, da bin ich mir bis heute absolut sicher, hörte ich Herrn Kemper zischeln: »Mit so einem dicken Kind fahren wir aber nicht mehr weg!«
    In diesem Urlaub wurde ich nicht braun. Ich wurde nicht einmal beige. Ich war am Tag der Abreise genauso quarkweiß wie am Tag der Ankunft (keine Überraschung, ich hatte ja auch den ganzen Urlaub nur im Haus oder im Schatten gelegen – seit dieser Zeit weiß ich, dass man im Schatten NICHT braun wird, und bleibe so lange in der Sonne liegen, bis sich Blasen auf meiner Haut bilden), aber immerhin vier Kilo leichter. Die Kleider schlackerten um meinen Körper, als ich in den Minibus der Kempers einstieg. Mir war immer noch heiß. Furchtbar heiß. So heiß, dass selbst die Klimaanlage nichts gegen meine Hitze hätte ausrichten können.

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