Aerztekind
Die blieb bei der Rückfahrt allerdings aus, denn Daniela, die kleine Schwester von Imke, hatte sich einen sehr schmerzhaften Trommelfellriss zugezogen und durfte sich auf keinen Fall verkühlen. So saß ich ganz hinten, im Heck des Minibusses, und fieberte der Ankunft zu Hause entgegen.
Meine Eltern nahmen mich bereits auf dem Hof in Empfang. Mein Vater musterte mich mit skeptischem Blick, dann griff er mir unvermittelt an den Hals und tastete die Lymphknoten ab.
»Wie lange hast du schon die geschwollenen Lymphknoten?«, fragte er, während er die leberknödelgroßen Wucherungen an meinem Hals befingerte.
»Keine Ahnung«, stöhnte ich unter Schmerzen, »seit dem Anfang des Urlaubs, glaube ich.«
Mein Vater fasste mir an die Stirn. »Und Fieber hattest du auch die ganze Zeit?«
Die Kempers drückten sich verlegen vorm Gartenzaun rum.
»Na ja, Fieber«, sagte Frau Kemper, »höchstens ein bisschen erhöhte Temperatur.«
Frau Kemper war übrigens Krankenschwester und gehörte damit der geheimen Untergrundorganisation der Fieberverharmloser an.
»Kein Problem …«, sagte mein Vater und lachte, »das war das Beste, was Sie hätten tun können! Einfach aushalten, von so ein bisschen Pfeiffer-Drüsenfieber geht man schon nicht kaputt – wichtig ist vor allem das Auskurieren. Pfeiffer kriegt man ja ohnehin nur einmal im Leben, aber wenn man nicht aufpasst, kann das einige Wochen dauern.«
Er klopfte mir auf die Schulter. »Medikamente brauchst du jetzt ja keine mehr, das Schlimmste hast du überstanden. Du hast gute Selbstheilungskräfte, Tochter! Ich bin stolz auf dich, dass du den Virus ohne Gegenmaßnahmen bekämpft hast.« Und mit Blick auf die Kempers fügte er noch hinzu: »Komisch, dass sich keiner von euch angesteckt hat«, zuckte dann aber die Achseln und lud meine temporäre Ersatzfamilie auf eine Apfelsaftschorle ins Haus ein. Ich bekam für den Rest der Ferien Schonfrist verordnet und blieb drei weitere Wochen im Haus.
Danach war ich noch zweimal auf Korsika. Jedes Mal bin ich im Meer geschwommen, bin auf gelben Riesenbananen, von einem Motorboot gezogen, über das Wasser gehüpft, habe Lagerfeuer am Strand veranstaltet, einmal sogar mit einem Franzosen rumgeknutscht, Pinienzapfen gesammelt und bin sogar auf die Festung von Bonifacio gestiegen. Pfeiffer-Drüsenfieber habe ich nie wieder bekommen.
6. Alles Simulanten
Das Wichtigste, was man als Ärztekind wissen muss, ist, dass es eigentlich gar keine richtigen Kranken gibt. Jedenfalls keine, die man wirklich und richtig ernst nehmen sollte. Die meisten Patienten tun nämlich nur so, als ob sie krank sind, dabei wollen sie sich in Wahrheit einfach vor der achten teambildenden Maßnahme in Folge drücken, brauchen mehr Urlaubstage für die Renovierung der Wohnung oder haben schlichtweg keinen Bock zu arbeiten. Die »Krankheiten«, die diese Leute haben, heißen im Ärztejargon Montagsdepressionen, Faulenzia vulgaris, das Burn-out-Syndrom oder die Brückentagsgrippe. Der Tag, den sich der Erkrankte von Dr. Krankenschein freigeben lässt, heißt bei meinem Vater dementsprechend Rückentag, weil sich die meisten Arbeitnehmer, die am Freitagmorgen nach Christi Himmelfahrt oder Fronleichnam (sehr beliebt auch Aschermittwoch) anrufen, um sich krankschreiben zu lassen, am Feiertag »verhoben« haben und so »ausgerenkt« sind, dass sie noch nicht mal in die Praxis kommen können.
Richtige Profis in Sachen Blaumachen kommen schon zwei bis drei Tage vor dem Feiertag oder verlängerten Wochenende und klagen über Kopf- und Gliederschmerzen, Halsweh und ein leichtes Kratzen im Hals. Wenn mein Vater so was hört, schüttelt er nur angewidert den Kopf, verschreibt Vitamin-C-Tabletten und sagt den leicht angesäuerten Patienten: »Ihren Präventivhusten kriegen Sie mit ein paar Stunden Schlaf ganz leicht in den Griff. Außerdem verordne ich Ihnen eine Extraportion Bewegung an der frischen Luft, eine leichte Diät und viel Ruhe. Fastnacht kommt nächstes Jahr wieder, und bis dahin sind Sie garantiert wieder fit!«
Man kann sich vorstellen, dass mein Vater bei Blaumachern einen ganz besonderen Ruf hat.
»Neunzig Prozent meiner Zeit verbringe ich als Psychotherapeut«, jammert er immer, »acht Prozent kümmere ich mich um ein paar Chronische, und den Rest der Zeit schlage ich mich mit Lappalien herum!«
Ich glaube, dass mein Vater insgeheim der verpassten Chance nachtrauert, den HI -Virus entdeckt oder zumindest im Institut für Tropenmedizin den ersten Vorsitz
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