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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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innezuhaben. Die Langeweile in der Praxis kompensierte er gut zwanzig Jahre lang mit aufsehenerregenden und zum Teil hanebüchen gefährlichen Beschäftigungen. Eine Zeit lang war er begleitender Expeditionsarzt bei Bergbesteigungen. Er liebt es seit jeher, möglichst weit in die Ferne zu schweifen. Er war in Nepal, auf dem Montblanc und in Argentinien, auf dem Tafelberg in Südafrika und sogar mal in den Dolomiten. Meistens blieb er bei diesen Expeditionen für ein paar Monate fort. Und während wir auf seine baldige Rückkehr hofften, lasen wir irgendwann in der Regionalzeitung, die mein Vater für die Berichterstattung angeheuert hatte, dass eine Schlammlawine das Basislager überrollt hatte. Und so war das Abenteuer immer auch ein bisschen auf unserer Seite.
    Während dieser Auszeiten übernahm ein berenteter Kollege die Praxis. Dr. Kalbfleisch, so sein Name, war bei den Patienten beliebt (er schrieb krank) und von meinem Vater geachtet (er trieb Sport und tat sich außerdem ohne zu murren die stundenlangen Diaabende nach der Rückkehr meines Vaters im elterlichen Wohnzimmer, an).
    Als die Höhenflüge meinem Vater nicht mehr genug Nervenkitzel bereiteten, wechselte er ins ewige Eis. Mit verschiedenen Expeditionsschiffen durchkreuzte er die Arktis, umschiffte Grönland, residierte in Ushuaia in Argentinien und fotografierte das Nordpolarlicht im norwegischen Tromsö. Als es ihm dort irgendwann zu kalt wurde, verlagerte er seine Reisen auf die Äquatorialzone. Mit dem Rovos-Express fuhr er ab Daressalam einmal quer durch Afrika bis nach Kapstadt, bestieg aztekische Ruinen in Tenochtitlán und legte zu Ehren der 1631 verstorbenen Hauptfrau des Generalmoguls Shah Jahan ein paar Blütenblätter vor das Taj Mahal.
    Um es kurz zu machen: Mein Vater führt insgesamt ein alles andere als langweiliges Leben, und meine Mutter auch nicht, seit mein Vater seine Reiseziele auf die mittleren Breitengrade verschoben hat und sie ihn begleitet. Und trotzdem ist er genervt von der Monotonie der Allgemeinarztpraxis, um die er sich, wenn er Dr. Kalbfleisch wieder in die Warteschleife schickt, acht Monate im Jahr selbst kümmern muss.
    Wenn es einmal passiert, dass ein Patient in die Praxis kommt und nicht nur jammern, blaumachen oder seinen Schnupfen behandeln lassen will, sondern eine womöglich unentdeckte Krankheit mit seltenen Symptomen hat, wird mein Vater immer ganz wuselig und verbringt Tage vor seinem Rechner oder irgendwelchen medizinischen Atlanten, wo er nach der Lösung für seinen akuten Lieblingspatienten sucht. Er findet dann oft ganz und gar ungewöhnliche und kaum zu erkennende Krankheiten, die man höchstens aus Grey’s Anatomy kennt, übrigens die einzige Darreichungsform der medizinischen Wissenschaften, die mich wirklich interessiert. Ich kenne Elephantitis, das Angelman-Syndrom, die Hasenpest und diesen kleinen Fisch aus Südamerika, der beim Pinkeln in den Amazonas über den Urinstrahl in den Penis schwimmt, sich dort verhakt und schlimme und sehr schmerzhafte Entzündungen hervorruft. Mein Vater ist ein brillanter Diagnostiker, deswegen kann ich ihm nicht krummnehmen, dass ihn Angina tonsillaris, Magen-Darm-Infekte und Co. anöden. Die erkenne ja selbst ich, und zwar ohne Fachliteratur.
    Wenn man nun aber doch krank ist, also schlechte Blutwerte und ein bisschen Fieber, kötteligen Stuhlgang oder braunen Urin oder alles zusammen hat, dann liegt das garantiert am mangelnden Sport, am Übergewicht oder am Rauchen. Und wenn es an keinem von allen dreien liegt, weil man Sport treibt, normalgewichtig ist und nicht raucht, dann liegt es garantiert daran, dass man ein Simulant ist. Auf dem Anamneseblatt steht bei Diagnose dann »Einbildung«, und das ist sowieso die allerschlimmste Krankheit. Die ist nämlich unheilbar. Und das Allerallerschlimmste ist: Die komplette Familie meines Vaters leidet ausnahmslos und immer an schwerer, garantiert tödlich verlaufender und unheilbarer Einbildung.
    Zum Glück treibe ich keinen Sport, wiege immer zu viel und rauche gern. Mindestens eine halbe Packung am Tag, meistens aber mehr. Ich kann mir nicht gefallen lassen, als Simulant verunglimpft zu werden, deswegen gebe ich mir große Mühe, ein möglichst ungesundes Leben zu führen. Trotzdem behauptet mein Vater, solange ich denken kann, dass ich mir meine Migräne, die mich im sechswöchigen Rhythmus in verschiedensten Ausprägungen heimsucht, einbilde. Daran leide ich, seit ich fünf Jahre alt bin, und bis heute frage ich

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