Aerztekind
mich, wie ich mir als Kind schon Migräne einbilden oder sie simulieren konnte. Damals wusste ich nicht, was Migräne, geschweige denn ein Simulant ist, trotzdem schlussfolgerte mein Vater schon früh blitzgescheit, dass ich nur an der schwersten und schrecklichsten Pandemie der modernen Welt erkrankt sein kann: Einbildung.
Jahre später habe ich erfahren, dass es für diese Krankheit sogar einen Namen gibt: das Münchhausen-Syndrom. Dabei bilden sich Leute ein, dass sie Beschwerden haben. Nein, das ist nicht richtig, da sprach jetzt schon wieder das Ärztekind. Richtiger ist: Die Menschen, die am Münchhausen-Syndrom erkranken, haben tatsächliche Beschwerden, nur leider können die weder auf dem Röntgenbild noch im Kernspin noch an den Blutwerten oder irgendeiner sonstigen ärztlichen Überprüfungsmöglichkeit abgelesen werden, da sie im Kopf des Patienten entstehen. Genauer gesagt in der Psyche, da kommt das Münchhausen-Syndrom nämlich her. Um es kurz zu machen: Wer das Münchhausen-Syndrom hat, bildet sich nicht nur ein, Schmerzen zu haben, sondern ist auch noch doof genug, sie für wahr zu halten.
Die Leute, die an dieser schrecklichen Krankheit leiden, hängen, seit es das Internet gibt, bevorzugt vor dem Rechner rum und googeln ihre Symptome. Aus einer einfachen Erkältung wird im Nullkommanix eine Lungenentzündung, geschwollene Lymphknoten sind die Unheil bringenden Vorboten von Krebs, und wer mit Mitte vierzig noch kein Insulin spritzen muss, mit dem stimmt sowieso etwas nicht. Mein Vater nennt diese Leute liebevoll seine »Wikipedia-Hypochonder« mit einem offensiven Schmerzempfinden – was nicht mehr heißt, als dass sie wegen jeder Kleinigkeit ein Riesentheater machen und sprichwörtlich leiden, bis der Arzt kommt. Und wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, macht sich der Berg auch schon mal selbst auf den Weg.
In der Regel sind sie am Montagmorgen die Ersten in seiner Praxis, oft sind sie sogar schon vor dem Doktor da, bevor sich die heilige Pforte von Dr. Wittmann überhaupt öffnet. Diese Chipkartentouristen werden von den Helferinnen, die ihre Pappenheimer natürlich kennen, meist für mehrere Stunden im Wartezimmer geparkt, denn der Montagmorgen ist traditionell fürs Blutabnehmen und die kleinen bis größeren Gebrechen reserviert, die sich die »normalen« Patienten (also die Simulanten und die Blaumacher) am Wochenende zuziehen – aber selbstverständlich nicht auch am Wochenende behandeln lassen, denn erstens müsste man da noch mal zehn Euro Praxisgebühr in der Notdienstzentrale bezahlen, zweitens ist das Wochenende heilig, und drittens kann man Arztbesuche doch auch ganz bequem in die reguläre Arbeitszeit verlegen, warum also die Eile?
Neben den üblichen Verdächtigen finden sich also jeden Montagmorgen immer auch die, die eigentlich schon wissen, was sie haben, weil sie das ganze Wochenende in einschlägigen Foren verbracht haben und jetzt bestens informiert sind. Meist sind das Lehrer oder andere Beamte, die, während sie wie die Hühner auf der Stange im Wartezimmer ausharren, um die Zeit bis zur lang herbeigesehnten Konsultation zu verkürzen, schon einmal mit der Planung der kommenden vier krankgeschriebenen Tage beginnen, Mein schöner Garten , Schöner Wohnen oder Schöner Schrauben – das Oldtimermagazin blätternd. Sehr zum Leidwesen meines Vaters. Und jedes anderen Arztes, der doof genug ist, am Montagmorgen seine Praxis zu öffnen.
Wikipedia-Hypochonder sind die Schlimmsten von allen. Sie verfügen, wie mein Vater immer zu sagen pflegt, über einen sehr hohen Leidensfaktor. Natürlich sind sie kerngesund, extrem sensibel (um nicht zu sagen: empfindlich), meist wetterfühlig und in der Regel medizinisch ausgebildet. Zumindest so weit, wie man es ohne abgeschlossenes medizinisches Hochschulstudium eben sein kann. Wikipedia-Hypochonder zitieren oft und gern aus der Roten Liste und würden, wenn sie könnten, in den Universitätsbibliotheken dieses Landes in verstaubten Atlanten nach den wohl am seltensten diagnostizierten Krankheiten suchen (was sie nicht tun, denn sie haben eine ausgeprägte Stauballergie und reagieren auf den äußerst seltenen und von der Wissenschaft noch nicht bewiesenen Papierschimmelpilz, der die Atemwege verstopft und zu Lähmungen führt, mit spontanen epileptischen Anfällen – aber zum Glück gibt’s das Internet!), um am Montagmorgen, dem wichtigsten Tag ihrer Woche, beim behandelnden Arzt ihres Vertrauens aufzulaufen und zu verkünden:
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