Aerztekind
»Ich habe das Hashimoto-Syndrom!«
Wichtig bei der Auswahl einer eingebildeten Krankheit: Sie sollte selten bis unbekannt, unter Umständen (bei besonders misstrauischen Ärzten) sogar erfunden sein, nicht zwangsläufig tödlich verlaufen, aber eine sehr aufwendige Behandlung und eine noch längere Reha nach sich ziehen, im besten Fall sogar in der Frührente enden. Denn es ist ja nicht so, dass der Wikipedia-Hypochonder an der eingebildeten Krankheit sterben will – nein, er braucht nur viel, viel mehr Zeit, um noch weitere nicht diagnostizierte Erkrankungen an seinem maladen Körper zu finden, den behandelnden Arzt auf Kunstfehler zu verklagen und sehr lange und sehr teure Prozesse gegen ihn zu führen. Und das alles kann der Wikipedia-Hypochonder natürlich nicht während seiner Arbeitszeit machen, ist ja klar, deswegen sollte er möglichst früh berentet werden. (Die weibliche Gattung dieser Spezies ist medizinisch übrigens so bewandert, dass sie, ohne Aufsehen zu erregen, ihren meist hoch lebensversicherten Angetrauten um die Ecke bringen kann, ohne dass irgendjemand Wind davon bekommt, also Augen auf beim Ausstellen des Totenscheins!)
Dem behandelnden Arzt bleibt im Fall eines Wikipedia-Hypochonders nicht mehr übrig, als sich die Symptome, die der Betroffene meist in einer aufwendigen Excel-Tabelle bereits vorsortiert und ausgewertet hat, bis ins eitrige Detail aufzählen zu lassen, betroffen zu nicken und den Wikipedia-Hypochonder dann unverrichteter Dinge nach Hause zu schicken. Natürlich nicht, ohne ihm vorher eine Röntgenparty, ein CT , einen Kernspin oder mindestens ein großes Blutbild in Aussicht zu stellen und den »Patienten« dann möglichst schnell und auf möglichst kurzem Dienstweg an einen anderen Arzt, idealerweise einen Spezialisten, zu überweisen. Im besten Fall zu einem Arzt, der sich auf das Oberstübchen spezialisiert hat, und damit ist nicht der gemeine Neurologe, sondern der Meisendoktor gemeint.
Je nachdem, ob der eingebildete Kranke privatversichert oder nur Holzklassepatient ist, gestaltet sich dies leichter oder schwieriger. Aber solange auf der Überweisung das Richtige steht (wahlweise Morbus Meißner, das heißt »Sprung in der Schüssel«, »cerebrale Obstipation«, übersetzt in etwa »geistige Verstopfung«, »mentale Fraktur« oder das allseits verständliche »Simulitis«) weiß auch der folgebehandelnde Arzt, wo der Frosch die Locken hat.
Der Wikipedia-Hypochonder, für den der Arzt nicht nur Behandler, nicht nur Seelsorger, Bruder im Geiste und intellektueller Sparringpartner ist, dankt dem Bestätiger seiner wirren Theorien meist mit der Gabe kulinarischer Opfer. Ob selbst eingekochte Marmelade (oft, ganz im Sinne des Erfinders, seltene Mischungen wie Quitte-Holunder, Papaya-Mandel-Kirsch oder Erdbeer-Zucchini), eigenhändig geimkerter Honig oder selbst gekelterter Wein, der Wikipedia-Hypochonder ist sich für nichts zu schade, wenn es darum geht, dem Menschen, der das wacklige Kartenhaus der eigenen bescheuerten Wahrnehmung aufrechterhält, seine Dankbarkeit zu offenbaren. Und so stolziert der Wikipedia-Hypochonder mindestens einmal die Woche in die Kathedrale seines Glaubens, die Praxis, spricht seine Gebete, bricht das Brot und verteilt es unter den Armen (unter seinen und denen des Arztes), um auch im kommenden Quartal das teurere Medikament, die bessere Behandlung oder die längere Krankschreibung zu ergattern.
Kein Wunder, dass sich der Mediziner als solches für Gott hält.
7. Ein Job mit Fingerspitzengefühl
An einem sonnigen Sonntag im April, wir schreiben das 17. Lebensjahr nach meiner Zeugung, rief mich mein Vater über die Sprechanlage in die Praxis hinunter. Die war praktisch, wenn man mal eine Aspirin-to-go brauchte, relativ unpraktisch, wenn man dadurch zum Handlanger des Vaters wurde.
»Caro?«, dröhnte seine Stimme blechern scheppernd durch die Sprechanlage. »Kannst du mal kurz kommen? Ich brauche deine Hilfe.«
Das klang interessant. Mein Vater brauchte, seit ich nicht mehr fünf Jahre alt war und seine »Schreibarbeiten« übernommen hatte, eigentlich nie meine Hilfe, geschweige denn die Hilfe von irgendjemandem aus der Familie. Komisch nur, dass er mich für diese unbenötigte Hilfe in die Praxis zitierte. Ich schlitterte neugierig die Stufen im Treppenhaus hinunter und kam vor dem Labor zum Stehen.
Auf der Liege lag ein Mann. Mit einem Tuch hielt er sich das linke Auge zu, neben dem Taschentuch blubberte das Blut direkt in sein Ohr
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