Aerztekind
noch die Tage zuvor. Ich tat, was jedes Arztkind als Erstes tut: Ich rief Papa an.
»Ach ja, ich kann mir denken, was das ist. Du hast die letzten Wochen nur am Schreibtisch gesessen und dich nicht bewegt, ungesunde Sachen gegessen und geraucht wie ein Schlot. Sei kein solcher Jammerlappen, Caro. Noch zwei Tage, dann ist es vorbei.«
»Aber ich spüre meinen Arm nicht mehr!«, jammerte ich und konnte nicht verhindern, dass der Wasserpegel in meinen Augen sekündlich stieg. »Was, wenn es was Schlimmes ist?«
»Deinen Arm spürst du nicht mehr, weil du wahrscheinlich die halbe Nacht darauf gelegen hast. Oder es ist doch einer deiner Migräneanfälle, nur halt mit schlimmerer Aura. Mach jetzt aber nicht so ein Drama, musst doch nur noch zwei Tage die Zähne zusammenbeißen. Hopp!«
Mit seinem »Hopp!« im Ohr setzte ich mich wieder an den Schreibtisch. Zwei Stunden später fingen die Buchstaben vor meinen Augen so dramatisch an, auf und ab zu springen, dass ich meine beste Freundin anrief und sie bat, mir einen neuen Monitor zu besorgen.
»Einen Dreck machen wir«, sagte sie, als sie bei mir vorbeikam und mich sah. »Wir bringen dich jetzt ins Krankenhaus.«
Ins Krankenhaus? Oh nein. Ins Krankenhaus kamen nur Leute, die wirklich krank waren, also richtig krank, denen der Appendix explodierte oder die sich mit der Bohrmaschine die Hand durchlöchert hatten oder so. Aber doch nicht wegen einer Migräne! Und erst recht nicht wegen eines eingeschlafenen Arms! Wenn das mein Vater herausbekam, der würde mich ungespitzt in den Boden rammen. »Da gehen sie hin, unsere Steuergelder, kein Wunder, dass unser Gesundheitssystem am Ende ist, wegen Leuten wie dir!«, würde er schimpfen. Neben dem monotonen Pochen in meinem Ohr konnte ich seine Stimme beinahe hören.
Sosehr ich mich auch zierte, meine Proteste verhallten im Nichts. Ich wurde von meiner Freundin ins Krankenhaus gebracht und in ein nach Desinfektionsmitteln stinkendes Behandlungszimmer verfrachtet. Eine junge Ärztin kam und fing an, mich zu untersuchen, und stellte dabei ganz seltsame Fragen.
»Wie lange ist Ihnen schon schwindelig? Kam das ganz plötzlich? Können Sie auf einem Bein stehen? Führen Sie sich mit geschlossenen Augen mal den Finger an die Nase! Ach, normalerweise klappt das problemlos? Heute das erste Mal nicht? Interessant. Sagen Sie, gibt es bei Ihnen in der Familie Risikopatienten?«
»Was meinen Sie, was für Risikopatienten?«, fragte ich, die ich ermattet auf der Liege lag (ich war frustriert, weil ich mir nicht mal mehr mit geschlossenen Augen den Finger an die Nase führen konnte) und mich verzweifelt am Blick der Ärztin festklammerte.
Sie schwieg. Und ich ließ das Ärztekind raushängen.
In geschäftigem, aber möglichst sachlichem Tonfall fragte ich: »Wie lautet Ihre Diagnose?«
Innerlich wappnete ich mich, gleich die folgenden Worte aussprechen zu müssen: Und wie viel Zeit bleibt mir noch? Dann würde ich alle lebensverlängernden Maßnahmen und eine ärztliche Behandlung ablehnen, nach Hause fahren, ein Around-the-World-Ticket buchen und morgen schon in einem Flieger nach Kuala Lumpur sitzen, von wo aus ich meine Weltreise beginnen würde, bis ich an einem einsamen Strand in der Südsee in vollkommenem Frieden mit mir selbst und einer Kokosnuss in der Hand friedlich einschlafen würde.
»Ich habe noch keine Diagnose – nur einen Verdacht.«
Wolken zogen in meinen eskapistischen Südseeträumen auf. Vielleicht war ich gar nicht todkrank. Vielleicht war ich einfach zu dick, zu unsportlich, aß zu ungesund, trank zu leidenschaftlich, rauchte zu viel und hatte schlicht und ergreifend die Hose gestrichen voll, weil meine letzte Studiumsprüfung bevorstand und ich nicht einmal den Hauch einer Ahnung hatte, was ich danach mit meinem Leben anstellen wollte. Vielleicht war ich nichts anderes als ein geisteswissenschaftlicher Dünnschiss auf Abwegen, der es noch nicht einmal packte, sein Studium, das ihn auf direktem Weg in die Arbeitslosigkeit führte, zu Ende zu bringen, und jetzt nach einer billigen Ausrede (ein tauber Arm, ich bitte Sie!) suchte, um seiner gescheiterten Existenz durch die Todesaussicht doch noch eine dramatische Bedeutung zu geben.
»Wie lautet Ihr Verdacht?«, fragte ich deswegen tapfer.
Besser wäre gewesen: Wen verdächtigen Sie? Mich, natürlich. Ich hatte keine Krankheit. Ich hatte einen schweren, aber unbehandelbaren Anfall von Einbildung. Und ich würde sterben. Das war klar. Denn DAS würde mir mein
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