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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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Schmerzes leider direkt neben dem Bereich liegt, in dem die Gedanken von der Ursprungsidee bis zur Produktionsreife gesponnen werden.
    Früher, wenn ich als Kind Migräne bekommen und meinen Vater davon überzeugt hatte, dass ich nicht simuliere, lag ich immer stundenlang in meinem abgedunkelten Zimmer, einen kalten Waschlappen auf der Stirn und den Plastikeimer neben dem Bett. Weil ich nichts machen, vor allem aber nicht schlafen, nicht lesen und ohnehin die Augen nicht öffnen konnte, hörte ich Hörspielkassetten, und zwar in der Dauerschleife. Mein Lieblingshörspiel war Pünktchen und Anton von Erich Kästner, das es in einer tollen Aufnahme von Deutsche Grammophon gab, von Kästner selbst als Erzähler gesprochen. Die folgende Szene klingt mir noch heute in den Ohren, die werde ich nie, nie, nie vergessen, sie hat sich in meinem schmerzgeplagten Schädel in derselben Intensität eingebrannt, in der mein altes Kinderradio das Magnetband abnudelte: »Nach dem Mittagessen kriegte Frau Direktor Pogge Migräne. Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat. Die dicke Berta musste im Schlafzimmer die Jalousien runterlassen, damit es ganz dunkel wurde, wie richtige Nacht. Frau Pogge legte sich ins Bett und sagte zu Fräulein Andacht: ›Gehen Sie mit dem Kind spazieren, und nehmen Sie den Hund mit! Ich brauche Ruhe!‹«
    Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat. So war das also. Mein Vater hatte sich, so dämmerte es mir eines Nachmittags, an meinen Hörspielen vergriffen! Wie sollte man sonst auf die Idee kommen, mit so einer infamen Behauptung an die Öffentlichkeit zu treten? Oder kannte mein Vater am Ende sogar Herrn Kästner? Oder hatte Herr Kästner vielleicht mal meinen Vater kennengelernt? Oder war – und ich sagte ja bereits, Gedanken nehmen seltsame Bahnen, wenn im Kopf ein Presslufthammer wütet – mein Vater am Ende sogar der Autor des perfiden Gedankens selbst? Das musste es sein! Mein Vater, der einzige Mensch, den ich kannte und der behauptete, Migräne sei reine Einbildung, und Erich Kästner, der Held meiner durchwachten Nächte unter der Bettdecke, waren ein und dieselbe Person!
    Später habe ich gelernt, dass Migräne tatsächlich nur ein anderes Wort für Ich-hab-keine-Lust-auf-gar-nix-und-vor-allem-nicht-auf-dich-und-noch-viel-weniger-auf-Sex ist, das besonders gern von verheirateten Frauen verwendet wird, um sich vor den ehelichen Pflichten zu drücken. Wurde jedenfalls so behauptet.
    »Caro hat mal wieder ihre Migräne.«
    Ihre Migräne, wie das schon klang! Als habe ich sie erfunden. Als habe ich sie für mich allein reserviert und wolle keinem von diesem leckeren Kuchen was abgeben. Besonders erfreulich waren vor allem immer die Kommentare von anderen, die meinten, ihren wichtigen Senf zu meiner banalen Migräne dazugeben zu müssen: »Ich habe auch manchmal Kopfschmerzen.« Migräne hat mit ordinären Kopfschmerzen so viel zu tun wie der Wirtschaftsminister mit einer Portion Spaghetti bolognese. Und wenn mein Gegenüber dann auch noch meinte, etwas Geistreiches über das Erbrechen als solches hochwürgen zu müssen – »Ja, spucken ist immer sehr widerlich« –, hörte bei mir alles auf.
    Spucken? Ich spuckte nicht! Ich spuckte niemals! Ich erbrach mich, wenn ich Migräne hatte, in einem Ausmaß, dass die Niagarafälle spontan in einer Lehmgrube versickert wären, wenn sie sich hätten mit mir messen müssen. Pah! In meinen nächtlichen Stunden, in denen ich genug Zeit hatte, die hauchfeinen Sprünge im Porzellan der Toilettenschüssel genauestens zu studieren, wünschte ich mir, die ganze Welt möge nur einen einzigen Tag lang mal eine Migräne und keine Kopfschmerzen haben, sich die Seele aus dem Leib reihern und nicht »spucken«, und dann würden wir uns wieder sprechen.
    Meine stillen Gebete wurden nicht erhört. Stattdessen verschlimmerte sich mein Leiden in meiner Magisterphase Tag um Tag, sodass ich irgendwann nicht mehr wusste, wann ich überhaupt mal keine »Kopfschmerzen« mehr gehabt hatte. Und wenn ich keine Kopfschmerzen hatte, dann war mir schlecht, oder ich war noch voll auf Schmerzmittel, oder ich hatte eine Aura, die jeden Epileptiker ehrfurchtsvoll zum Schweigen gebracht hätte.
    Zwei Tage vor meiner letzten Prüfung wachte ich morgens auf und konnte meinen Arm nicht mehr spüren. Außerdem war mir so schwindelig, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Am Vormittag setzten die Kopfschmerzen ein, schlimmer diesmal, fordernder als

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