Aerztekind
hab Kopfschmerzen, und mir ist schlecht, was soll ich dagegen nehmen?«
»Nichts, hör einfach auf, dich jeden zweiten Abend mit billigem Weißwein volllaufen zu lassen.«
»Mein Immunsystem ist am Arsch, ich bin so schlapp und habe keine Motivation! Ich glaube, ich habe einen Burn-out.«
»Du? Wovon denn? Um ein Burn-out-Syndrom zu bekommen, muss man arbeiten, und du arbeitest nur, wenn man dich mit vorgehaltener Waffe bedroht. Also heul nicht rum, sondern komm in die Gänge, sonst wird das mit deinem Abschluss nie was!«
Im zweiten Semester fuhr mich eine Kommilitonin, die mich wegen einer harmlosen Seitenstrangangina kontaktierte, an: »Deine Kommentare sind so überflüssig wie die Studiengebühren! Wenn ich schlaue Ratschläge brauche, kann ich auch zu einem richtigen Arzt gehen.«
Da war es. Der absolute Beweis, dass ich ein Arztkind war. Mit jedem Kilometer, den ich von meinem Heimatort zu meinem Studienplatz in Göttingen zurückgelegt hatte, kam ich meinem Vater anscheinend näher. Je vehementer ich versuchte, dem elterlichen Klammergriff zu entkommen, desto gewissenhafter verwandelte ich mich in das Spiegelbild, die logische Konsequenz, den außerkörperlichen Wurmfortsatz meines Vaters.
Plötzlich kamen mir alle so wehleidig vor. Du gehst nicht ins Seminar, weil du heute Morgen nicht aus dem Bett gekommen bist? Ach je. Wie schlimm. Kann es vielleicht daran liegen, dass du bis letzte Nacht um drei mit deinen WG -Mitbewohnern in der Küche gesessen und einen Joint nach dem anderen geraucht hast? Nein? Dann liegt das bestimmt an deiner schlimmen Kindheit. Ja, da bin ich mir ganz sicher, wird dir jeder Psychiater bestätigen. Nein, mach dir keine Sorgen, davon stirbt man nicht, wenn man überhaupt an irgendetwas stirbt, dann weil man ein elender Hypochonder ist, der sich seine Krankheiten einbildet! Ich hab mal von einer Frau gelesen, die dachte, sie habe einen Tumor – hatte sie aber nicht. Sie hat sich aber so da reingesteigert, dass sie am Ende doch gestorben ist. Das glaubst du mir nicht? Na, dann geh doch mal zu einem richtigen Arzt. Der wird dir mit Sicherheit attestieren, dass du kerngesund, aber überwältigend faul bist und immer nur nach einer Ausrede suchst, dich vor der Arbeit zu drücken. Das ist übrigens nicht heilbar, aber immerhin stirbt man nicht davon.
Am schlimmsten waren aber diejenigen, die von der konservativen Medizin nichts hielten und sich auf homöopathische Therapien spezialisiert hatten. Die meinten, dass ein um tausend Potenzen verwässerter Wirkstoff intensiver wurde, außerdem besser verträglich und auch viel besser für die Umwelt. Na klar. Wenn ich eine Aspirin nahm, mit eintausend Liter Wasser runterspülte und mich dabei unentwegt im Kreis drehte, würde der Wirkstoff wirklich stärker werden? So ein Quatsch. Das war albernes alternatives Gefasel, und ich, Anhängerin der Schulmedizin, Verfechterin von Chemiekeulen und Botschafterin des Slogans »Die Pharmaindustrie hat mein Leben gerettet«, glaubte natürlich nicht daran, dass man durch Handauflegen Tumore loswurde oder mithilfe von Akupunkturnadeln das Rauchen aufhörte. Wenn man krank wurde, und ich meine richtig krank und nicht nur simulierend, dann hatte man gefälligst etwas dagegen zu unternehmen, also ließ man sich wahlweise ein Bein amputieren oder schluckte ein paar Tabletten, aber doch bitte keine Globuli oder Schüßlersalze.
Und überhaupt. Wenn meine Mitstudenten mich immer um Schmerzmittel anpumpten (die ich in Massen besaß, immerhin war ich Migränepatientin der ersten Stunde, auch wenn mein Vater lange gebraucht hatte, um dieses familiäre Stigma anzuerkennen), weil gegen ihre schlimmen Kopfschmerzen mit Verdacht auf Hirntumor (die sich in zehn von zehn Fällen als gewöhnlicher Kater entpuppten) einfach keine rezeptfreien Medikamente halfen, war ich schon ein wenig sauer. Ich hatte immerhin eine Krankheit. Eine echte. Eine mit Symptomen. Und eine, für die man wenigstens ab und an den Notarzt rufen musste.
Immer dann, wenn ich nachts erwachte und mein Gehirn arhythmisch gegen meinen Schädel zu schlagen schien, wenn ich stundenlang auf Knien die Kloschüssel anbetete und irgendwann, halb im Delirium, leer und im wahrsten Sinne des Wortes ausgekotzt auf allen vieren zurück in mein Zimmer kroch, immer dann dachte ich: Es kann keinen Gott geben. Oder er hatte noch nie Migräne.
Ganz schön arrogant. Aber wenn man Migräne hat, denkt man sowieso ganz komische Sachen, weil das Epizentrum des
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