Aerztekind
Vater sicherlich niemals durchgehen lassen.
Die Ärztin musterte mich und sagte mit leicht hochgezogener Augenbraue: »Schlaganfall.«
»Ich hab doch keinen Schlaganfall!«, ereiferte ich mich. Lächerlich. Das war ja wohl die Höhe! Hatte die Frau denn gar keine Ahnung? Ich hatte eine Migräne, und mein Vater hatte gesagt, dass ich mich nicht so anstellen bräuchte, also stellte ich mich nicht so an, und was kam dann? Madame Neunmalklug diagnostizierte einen Schlaganfall, war das die Möglichkeit?
»Wir machen ein CT «, beschloss Frau Neunmalklug.
Ein CT ist teuer. Sehr teuer. Und die Taschen der Krankenkassen sind leer.
»Nein, wir machen kein CT .«
Als Nächstes würde sie dann einen Kernspin vorschlagen, dann eine Rückenmarkspunktion und eine Entnahme von Gehirnwasser, und ehe man es sich versah, hatte man wirklich einen Schlaganfall! Nee, nee, nicht mit mir.
Ich setzte mich auf der Liege aufrecht hin. »Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich einen Schlaganfall habe?«
»Sie haben Sehstörungen, Ihr Arm ist taub, Ihnen ist schwindelig und schlecht, Sie eiern, wenn Sie auf einer Linie laufen sollen, haben einen gestörten Gleichgewichtssinn und Kopfschmerzen. Das Einzige, was gegen einen Schlaganfall spricht, ist die geistige Verwirrung, die Sie nicht zeigen. Wobei ich mir da noch kein abschließendes Urteil gebildet habe.«
Die Ärztin sah mich an, und in ihren Augen blitzte es angriffslustig.
»Wenn ich hierbleibe, bringt mein Vater mich um!«, wandte ich energisch ein.
»Wenn Sie nicht hierbleiben, wird das nicht nötig sein, das wird der Schlaganfall dann für ihn erledigen.«
Eiskalt kroch mir die Angst die Glieder hoch. Wenn ich nun wirklich einen Schlaganfall hatte, war es dann sinnvoll, sich gegen ausdrücklichen ärztlichen Rat aus der Behandlung zu entlassen, nur weil man sonst Ärger mit seinem Vater bekam? Würde ich mir das später einmal verzeihen? Beziehungsweise: Hätte ich noch eine Gelegenheit, es mir zu verzeihen, bevor ich ins Gras biss?
Andererseits: Wenn mein Vater mitbekam, dass ich hier durch alle medizinischen Instanzen geschickt wurde und dem Steuerzahler damit 1.500 Euro am Tag aus der Tasche zog, würde ich mir vielleicht wünschen, ich wäre freiwillig gegangen und irgendwann klammheimlich in meiner Wohnung verendet.
Mein innerer Disput wurde von meiner Studienfreundin unterbrochen, die immer noch in einer Ecke im Behandlungszimmer saß und nun mein Handy in die Höhe hielt. »Lass das die beiden Leute vom Fach doch selber klären«, schlug sie vor und wählte die Nummer meines Vaters.
Na prima. Sie konnten den Bestatter schicken, ich war am Arsch.
»Hallo Herr Wittmann«, hörte ich meine Freundin in den Hörer flöten, »wir bräuchten da mal Ihren ärztlichen Rat!«
Dann reichte sie das Telefon an die betreuende Ärztin weiter, die sich rückwärts aus dem Behandlungszimmer schlich, nicht ohne mir einen letzten wütenden Blick zuzuwerfen.
Minuten später kam sie zurück. »Sie dürfen gehen.«
Ich sah sie erstaunt an. »Oha. Wie kommt’s?«
Irgendwie war mir klar gewesen, dass ich mich nach dem Telefonat, das sie mit meinem Vater geführt hatte, nicht auf einen Daueraufenthalt im Krankenhaus würde einstellen müssen.
»Ihr Vater hat mir Ihre gesamte Krankheitsgeschichte erzählt. Sie sind seit über zwanzig Jahren Migränepatientin. Das hätten Sie mir ruhig mal sagen können.«
Wieso? Normalerweise wollte es doch auch keiner wissen … und mir war nicht bewusst gewesen, dass man bei der Anamnese auch eingebildete Krankheiten angeben musste. Ich schwieg. Beleidigt. Nicht mal das hatte ich richtig gemacht.
»Und ich soll Ihnen etwas von Ihrem Vater ausrichten«, sagte sie und lächelte nicht. »Ich soll Ihnen sagen: Sie haben vielleicht einen Schlag und ganz sicher auch schlimme Anfälle, aber einen Schlaganfall, das hält er für ganz ausgeschlossen.«
Wie sich später herausstellen sollte, hatte ich tatsächlich keinen Schlaganfall, sondern lediglich eine mehrere Tage andauernde Migräne mit sehr starker Aura. Das führte dazu, dass ich in meiner Magisterprüfung alles doppelt sah und nicht von zwei, sondern vier Prüfern in die Mangel genommen wurde. Meinen Abschluss habe ich trotzdem gemacht. Und mit ihm in der Tasche stellte sich meine Migräne für fast ein halbes Jahr vollständig ein. Aber um Krankenhäuser mache ich, es sei denn, mein Vater arbeitete darin, immer noch einen großen Bogen.
4. So lässt es sich gut leiden
Im Leben eines
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