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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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Sehnenscheidenentzündung zuzieht (welche sich zum Blaumachen ohnehin nicht eignet, weil man ja noch die Beine zum Gehen und die Ohren zum Zuhören hat oder sich notfalls zum Linkshänder umschulen lassen kann). Noch schlimmer als die Geschichte, die man um die nicht schmerzende Extremität erfinden muss, ist aber die Angst vor dem echten Schmerz. Jeder, der sich schon einmal einen Arm gebrochen, ins Fleisch geschnitten oder einen Nerv in der Brustwirbelsäule eingeklemmt hat, wird sich hüten, die Schmerzen – und sei es nur in der Simulation derselben – noch einmal hochzubeschwören.
    Gut. Kopf, Innereien, Gliedmaßen und Nerven fallen also weg. Bleiben nur noch die Zähne. Niemand mit Verstand würde allerdings jemals auch nur ansatzweise in Erwägung ziehen, freiwillig Zahnschmerzen vorzuspielen, denn die Konsequenz daraus ist zwangsläufig, dass man zum Zahnarzt muss. Möglich sind natürlich auch psychische Krankheiten, es ist aber fraglich, ob man, nachdem man seinen Eltern glaubhaft versichert hat, dass man an einer schlimmen Depression mit manischen Zügen leide, am Ende der Woche auf die Party von Susanne darf, auf die man sich schon seit Wochen vorbereitet.
    Da man sich heutzutage allein durch den Gang zum Arzt des Verdachts schuldig macht, ein elender Betrüger und Hochstapler zu sein, der seine Symptome vortäuscht oder (noch schlimmer) sich einbildet, sollten Patienten das Simulieren von Krankheit besser ganz sein lassen. Nicht nur Ärztekinder. Schließlich ist ein unnötiger MRT genauso teuer wie ein wirklich angezeigter, und Medikamente, die dem Simulanten in den Rachen geworfen wurden, sind für alle ernsthaft Kranken endgültig verloren. Deswegen kostet das Simulieren den Steuerzahler Millionen und sorgt dafür, dass wir alle, wenn wir mal in Rente gehen, von der Altersarmut eingeholt werden. Also alle bis auf die Ärzte.
    Nun kommt es aber vor, dass man selbst als Ärztekind wirklich krank wird. Und dass die Tatsache, dass man sich seit Tagen nur mühsam aus dem Bett quält, dass man wirklich Fieber oder entzündete Mandeln oder Flitzekacke hat, einfach nicht mehr ignoriert werden kann. Dann passiert, was den meisten Ärztekindern einen kalten Schüttelfrost den Rücken hinunterjagt, was den Puls rasen und die Lider flattern lässt: Sie müssen zu einem fremden Arzt. Und das will gelernt sein.
    Weil Ärztekinder wissen, wie Ärzte ticken (und im schlimmsten Fall selbst welche werden), spielen sie von vorneherein schon mal alles runter. Im Gegensatz zum gewöhnlichen Simulanten, der auf jedes Zipperlein noch ein Schippchen drauflegt, übt sich das Ärztekind, vor allem das volljährige, das sich nicht mehr vor einer Matheklausur drücken muss, in Zurückhaltung. Gebrochen? Ach was – maximal gestaucht. Fieber? So ein Unsinn. Höchstens erhöhte Temperatur. Keuchhusten? Mit viel gutem Willen ein leichtes Kratzen im Hals. Und bitte bloß nicht krankschreiben, das erlauben mir meine Eltern nie!
    Ärztekinder wurden ihr Leben lang mit der Maxime infiltriert, dass sie sich nicht so anstellen sollen und bitte, BITTE ! nicht zu dem Pulk all der anderen Weicheier mit offensivem Schmerzempfinden gehören, die mit ihren Krankheiten kokettieren, um ein paar Tage länger Urlaub zu bekommen. Und wenn man schon zu einem anderen Arzt geht, dann sowieso nur im eigenen Urlaub. Bloß nicht zur Arbeitszeit. Und am allerwenigsten am Wochenende, denn da hat der Halbgott in Weiß Schaffenspause. Und kann nicht rechtzeitig in Urlaub fahren. Deswegen gilt für Ärztekinder das ungeschriebene Gesetz: Wenn sich meine Krankheit irgendwie verschieben, verharmlosen oder verschleppen lässt, dann werde ich meine Chance nutzen und meine bislang nicht erkannte Laktose-Intoleranz entweder selbst therapieren oder einfach unter den Tisch fallen lassen.
    Einmal, während meines Studiums, für das ich zwangsläufig meine Heimatstadt verlassen hatte und demnach auch zwangsläufig zu einem anderen Arzt als zu dem gehen musste, der mich schon seit Jahren nicht behandelte, bekam ich einen Schnupfen. Natürlich war mir klar, dass es etwas mehr als ein Schnupfen war, eher ein grippaler Infekt, eine seltene und vermutlich oft falsch diagnostizierte Autoimmunerkrankung oder am Ende sogar Lungenkrebs, aber mein Vater hatte mir am Telefon seine Ferndiagnose verkündet, und seitdem lag ich danieder, in der schrecklichen Gewissheit, ein Jammerlappen zu sein. Ich betete zu dem Gott, an den ich nicht glaubte, dass mein Fieber nicht noch mehr

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