Aerztekind
Ärztekindes gibt es zwei äußerst unangenehme Situationen: erstens, krank werden und zu einem Elternteil in Behandlung gehen. Und zweitens, krank werden und von einem anderen Arzt behandelt werden.
Am besten wird man demnach gar nicht krank. Geschieht es aber dennoch, sieht man sich plötzlich nicht nur mit seiner womöglich simulierten Krankheit und allen dazugehörigen eingebildeten Symptomen, sondern auch mit der Unfähigkeit konfrontiert, einen echten, einen anderen Arzt anstelle von dem zu besuchen, der einem schon seit Jahren sagt, dass man ein elendiger Jammerlappen ist.
Zum Arzt gehen will also gelernt sein.
Neben dem Münchhausen-Syndrom, das ich ja bereits als aufsehenerregendste Simulantenkrankheiten der Neuzeit vorgestellt habe, gibt es eine weitere Krankheit, die mich Staunen lässt: das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Es handelt sich hierbei um eine spektakuläre Abwandlung des Münchhausen-Syndroms, das – im Vergleich zu seiner Weiterentwicklung – geradezu lächerlich erscheint.
Ist ein Patient, oftmals eine Frau und noch viel häufiger eine Mutter, am Münchhausen-by-Proxy-Syndrom erkrankt, erfindet sie keine eigenen Wehwehchen, oh nein: Sie tut so, als wäre ein anderer, etwa das eigene Kind, erkrankt und müsse behandelt werden. Daraufhin beginnt sie mit ihrer Odyssee durch die medizinischen Abteilungen und hört erst wieder auf, wenn die Frucht ihres Leibes zu Tode medikamentiert oder von ihr selbst vergiftet wurde, um noch mehr Behandlung und noch mehr ärztliche Aufmerksamkeit zu ergattern.
Es ist vollkommen unmöglich, dass ein Mediziner dieser Krankheit zum Opfer fällt. Ärzte behandeln ihre Kinder ohnehin nur unter Androhung von roher Gewalt. Die Vorstellung, dass sie ihre Kinder ABSICHTLICH zu einem anderen Arzt schleppen, ist nicht nur absurd, sie ist ein Verstoß gegen die Naturgesetze. Von dieser Regel ausgenommen sind lediglich die Ärzte, die über ein medizintechnisches Equipment verfügen, das die eigene Praxis nicht hergibt, also Röntgengeräte, Kernspintomografen oder Notfallhubschrauber. Aber die braucht man sowieso ganz selten – und in Fällen von akuter Einbildung schon mal gar nicht. Wäre ja noch schöner.
In der Regel ist es ja auch ganz einfach. Bei einer Erkältung oder einem grippalen Infekt muss man nicht groß behandeln, geschweige denn einen Kollegen aufsuchen, denn eine Erkältung dauert ohne Medikamente acht Tage, mit Medikamenten eine Woche. Alter Ärztetrick. Und auch eine Magen-Darm-Grippe erfordert kein weiteres Zutun, als abzuwarten und Tee zu trinken, denn »drei Tage kommt sie, drei Tage bleibt sie, drei Tage geht sie«.
Dementsprechend schwierig gestaltete sich für mich damals das Blaumachen der Schule. Von der Migräne mal abgesehen, die ich aber, Erich Kästner sei Dank, niemals als Vorwand zum Schwänzen verwendete (konnte ja sein, dass man sie später noch einmal brauchte …), eignen sich nämlich nur wenige Krankheiten zum Simulieren. Das hat mein Vater in seiner Alles-nur-eingebildet-Theorie wohl vergessen zu erwähnen. Eine erhöhte Temperatur kann man nämlich nur schwer vortäuschen, und wenn man es doch versucht, wird man wie ich schnell der schamlosen Lüge überführt, weil man das Thermometer doch ein Sekündchen zu lang in den heißen Tee getaucht und eine angebliche Temperatur von über 52 Grad Celsius hat. Ups. Außerdem winkte, zumindest in jüngeren Jahren, bei Fieber immer das Zäpfchen – und kein vernünftiger Mensch, es sei denn, es ist eine ausdrücklich erwünschte Sexualpraktik – möchte WIRKLICH rektal behandelt werden.
Auch Bauchschmerzen kann ich als Simulationssymptom nicht empfehlen, meistens muss man dann nämlich tagelang Suppe essen und widerlich schmeckende Säfte trinken.
Der gesamte HNO -Apparat eignet sich deshalb schon nicht zum Simulieren, weil die verräterisch nicht tomatenrot angelaufenen Mandeln, die nicht geschwollenen Lymphknoten und das fehlende Rasseln in der Brust keinen praktizierenden Mediziner von einer bevorstehenden Lungenentzündung oder einer eitrigen Angina überzeugen können.
Bleiben – wie so oft – nur die Extremitäten. Einen schmerzenden Arm oder ein malades Bein vorzutäuschen klingt eigentlich ganz einfach, blöderweise bestehen die meisten Ärzte und vor allem Eltern auf einen ausführlichen Bericht vom Unfallhergang. Ist man also nicht besonders sportbegeistert oder einfallsreich, ist es mehr als unwahrscheinlich, dass man sich beim Liegen im Bett eine
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