Aerztekind
und einem Meer von Sommersprossen im Gesicht, sagte: »Ne, meine Eltern sind Lehrer – aber seien wir ehrlich, wer will schon freiwillig Lehrer werden?«
Das Gespräch mit den Ärztekollegen vertiefte sich, und ich lenkte die Fragen auf die Kindheit. Die Tochter eines Dermatologen sagte mit genervt rollenden Augen: »Dermatologin werde ich aber ganz sicher nicht. Mein Vater ist besessen von Salben! Der schmiert überall eine Salbe drauf. Selbst bei Kopfschmerzen kriege ich keine Tabletten, sondern diesen ekligen Tigerbalsam!«
»Frag mich mal«, sagte ein großer Junge mit stacheligem Kurzhaarschnitt und einem College-T-Shirt an. »Mein Vater ist Chirurg. Er sagt immer, dass eine Wunde nur als echte Verletzung gilt, wenn sie mit mindestens zehn Stichen genäht werden muss. Krank ist man dann, wenn man im Koma liegt. Alles davor sind lächerliche Vorstufen. Ich habe ewig gebraucht, um zu kapieren, dass nicht alle Kinder zu Hause mit einem Herz-Lungen-Modell spielen.«
Da schaltete sich ein anderer ein: »Mein Vater ist Orthopäde. Früher hing in meinem Kinderzimmer ein Mobile aus künstlichen Kniegelenken und Bandscheiben. Ich hab mir mal den Arm gebrochen, aber das wurde erst eine Woche später erkannt. Ich konnte sagen, was ich will, mein Vater fand es übertrieben, ein Röntgenbild zu machen. Erst als der Arm blau anlief, da hat er mich dann ins Krankenhaus gebracht. Aber nicht in das, in dem er arbeitet. Ist ja klar.«
Noch am selben Nachmittag marschierte ich ins Immatrikulationsamt und füllte den Bogen zur sofortigen Exmatrikulation aus, fuhr ins Studentenheim, packte meine Koffer und fuhr nach Göttingen. Meinem Vater schrieb ich eine lange, entschuldigende Mail, in der ich ihm erklärte, dass ein Medizinstudium mit meinen moralischen und ethischen Grundsätzen leider nicht vereinbar sei. Ich legte ihm ausführlich und vollkommen sachlich dar, welche Risiken und Nebenwirkungen ein Medizinstudium auf das eigene Wohlergehen, das Familienleben und die Erziehung der Kinder habe und dass ich mich am Ende des Tages lieber für arm, aber sexy statt für reich, aber Arschloch entscheiden würde. Also schön, ich habe das wahrscheinlich anders ausgedrückt, aber die Botschaft kam rüber. Zum Schluss gab ich ihm jedoch den Rat, sein sehr attraktives Studienangebot an eine meiner Schwestern weiterzugeben, die seien ohnehin ein bisschen weniger widerborstig als ich und außerdem viel besser im Auswendiglernen.
Daraufhin hat mein Vater drei Monate nichts von sich hören lassen. Als wir uns an Weihnachten wiedersahen, war er geknickt, hatte aber zumindest eingesehen, dass mein Studium in Göttingen mich wirklich richtig glücklich machte. Direkt im ersten Semester wurde ich Fachschaftsmitglied, reorganisierte die Hochschulzeitung und verbrachte die meiste Zeit meines Studentenlebens damit, in verrauchten Kneipen bei billigem Weißwein über das Verschwinden des Subjekts zu philosophieren, um nach dem letzten Glas festzustellen, dass Ich ein anderer sein muss. Der einzige Bezug, den ich zur Medizin pflegte, war das regelmäßige Einnehmen meiner »Prämedikation«, im Volksmund auch »Vorglühen« genannt. Und manchmal sah ich mir ein paar Folgen Emergency Room im Fernsehen an. Einen Fuß nach Greifswald habe ich nie wieder gesetzt.
Erst Jahre später habe ich über Facebook wieder Kontakt zu Denise gehabt, dem Lehrerkind, das ich an meinem ersten Tag des kürzesten Medizinstudiums aller Zeiten kennengelernt hatte. Auf meine Frage, ob sie tatsächlich Ärztin geworden sei, schrieb sie: »Gott bewahre! Nach dem Physikum habe ich umgesattelt. War mir zu krass, die Präp-Kurse, das nächtelange Büffeln und nicht zuletzt die Sache mit den Patienten – ich finde es eklig, wenn ich fremde Menschen anfassen muss. In meinem jetzigen Job ist das zum Glück anders. Wenn ich die Schüler anfasse, werde ich verklagt. Das finde ich super. Ich bin jetzt Lehrerin. Bio und Physik, Gymnasium.«
Ob Denise als Physiklehrerin in der Lage ist, die durchschnittliche Fallgeschwindigkeit und die kinetische Energie eines nicht weit vom Stamm fallenden Apfels zu berechnen?
3. Reine Kopfsache
Obwohl ich ein geisteswissenschaftliches Studium dem der Medizin vorzog, habe ich meine gesamte Studienzeit über meinen Kommilitonen ärztliche Ratschläge, Medikamentenempfehlungen und wertvolle Tipps aus der Kategorie Ärztekind gegeben.
»Ich hab so schlimme Rückenschmerzen, weißt du, was ich da machen kann?«
»Ja. Beweg dich mehr.«
»Ich
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