Aerztekind
eher im Hirn, aber das ist nur meine Meinung.
Während ich bei derlei medizinischem Geplänkel recht schnell zur Ungeduld neige und mein Unbehagen über die eingewachsenen Zehennägel, die Farbe und Konsistenz des aus der Nase Ausgerotzten oder die Strahlstärke des Morgenurins meiner mich bei meinen Eltern besuchenden Freunde nur schwer verbergen kann, stellt mein Vater ausnahmslos immer unter Beweis, dass sich Ärzte in einer Art Vierundzwanzigstunden-Behandlungsdauerschleife befinden. Ein Leben lang. Bei Tag und bei Nacht. Einfach immer.
Er ist sich nie zu schade, den eitrigen Ausfluss am aufgeschürften Knie einer Freundin zu untersuchen, selbst wenn er gerade, in ein Sultanskostüm gekleidet, auf dem Weg zur Fastnacht ist und meine Mutter ungeduldig mit dem Schleier winkt. Er nimmt sich immer Zeit, einhändig die pfirsichgroß geschwollenen Lymphknoten meines Freundes abzutasten, selbst wenn er mit der linken Hand den kalten Rest seiner bereits zum zweiten Mal aufgewärmten Lasagne in sich hineinschaufelt. Und selbst bei Grillpartys im Garten referiert er in einer stoischen Gelassenheit, ach was, Heiterkeit über die Vor- und Nachteile künstlicher Hüftgelenke inklusive dazugehöriger Operation. Oder schneidet zwischen Vorspeise und Hauptgang mal eben einen mächtig geschwollenen Abszess am Kinn seines Tischnachbarn auf und äußert sich danach bedauernd über den doch recht mangelhaften Eiterabfluss.
Mein Vater ist immer im Dienst.
Bei meinem Freund ist das ähnlich. Und der ist noch nicht mal Arzt. Der ist IT ler. Und hat aber so rein gar nichts mit Microsoft zu tun. Trotzdem wird er alle naselang von Freunden, Bekannten, manchmal sogar Fremden angequatscht.
»Immer wenn ich den Rechner hochfahre, kommt so ’ne Fehlermeldung …«
»Seit ich auf das neue Modem umgestellt habe, funktioniert Java nicht mehr richtig – weißt du, warum?«
»Mein USB -Stick wird von meinem Rechner nicht mehr erkannt.«
Oder, ganz beliebt und ausnahmslos immer von meinem Vater kommend: »Ich kann nicht mehr ins Internet!«
Dann mein Freund (sehr gelassen): »Dann hast du das Internet kaputt gemacht.«
Mein Vater: »Ach Quatsch!« (Aber tief im Inneren, das weiß ich, hält er diese Möglichkeit für realistisch – immerhin ist er Arzt, und Ärzte können alles, sogar das Internet kaputt machen!)
Und dann fährt mein gelassener Freund zu meinem aufgeregt auf der Stelle hüpfenden Vater (»Das ist gaaaanz wichtig, dass ich diese E-Mail an die KV heute noch verschicke!«) und stellt nach dreißig Sekunden fest, dass Papa nur an den Einstellungen herumgespielt und die Ansicht vom Browser verändert hat.
Diagnose: DAU (Dümmster Anzunehmender User).
Behandlung: Computerverbot.
Patient: Selig.
Na gut, ich gebe es zu. Ich bin neidisch. Auf meinen Freund, vor allem aber auf meinen Vater. Mich fragt nie, wirklich nie, nie, nie jemand um Rat. Also beruflich. Von mir wollen alle immer so Frauenratschläge (»Wie soll ich mit ihm Schluss machen?«, »Was schenk ich ihr zum Jahrestag?«, »Welche o.b.s sind die besten?«), aber mich hat in meinem ganzen Leben noch niemand gefragt, ob man nun zwischen entweder und oder ein Komma schreibt oder nicht. Keine Sau will von mir wissen, warum der Dativ dem Genitiv sein Tod ist, warum selbstständig seit ein paar Jahren mit Doppel-st geschrieben wird oder wie nun die grammatikalisch richtige Vergangenheitsform von »backen« heißt (und zumindest Letzteres könnte ich beantworten). Noch nie hat bei mir jemand nachts um drei angerufen und geklagt: »Das mit dem erweiterten Infinitiv raubt mir einfach den Schlaf, ich weiß nicht, was ich tun soll. Kannst du mir helfen?«
Ich bin neidisch, weil mein Beruf mich nicht in den Genuss bringt, anderen Leuten kostenlos und aus lauter Freundschaft die Haare zu schneiden, den Keilriemen zu wechseln oder zumindest dem Vermieter einen hasserfüllten Brief wegen der vollkommen überzogenen Heizkostenabrechnung zu schreiben. Ich kann anderen Leuten keine Steuererklärung machen, kein Haus bauen und kein kleines Einmaleins beibringen. Ich kann mit meiner Ausbildung weder den Satz des Pythagoras noch das Raum-Zeit-Kontinuum erklären. Ich kann niemandem meine Hilfe anbieten, es sei denn, er weiß nicht, ob in der wörtlichen Rede das Komma vor oder nach den Gänsefüßchen kommt.
Der einzige praktische Vorzug, den mein beknackter Beruf mit sich bringt, ist, dass ich bei Wissensspielen in der Kategorie »Literatur« immer als Joker genommen werde –
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