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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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aber da war es schon zu spät.
    Meine Mutter grinste. »Die Doktorarbeit?«
    Wie? Wieso? Doktorarbeit?
    »Aber wie soll das denn gehen?«, hakte ich nach. »Ohne Doktorarbeit kriegt man doch gar keinen Doktortitel.«
    Schweigen. Niemand sagte etwas. Nur meine Mutter grinste breit und kicherte. »Ups.«
    Papa lief ein bisschen rot an vor Wut, fasste sich aber schnell wieder und begann mit dem jämmerlichen Versuch, sich aus der Sache rauszureden: »Als ich nach meinem Studium im Krankenhaus anfing, kamst du ja schon auf die Welt – da hatte ich keine Zeit mehr, die Arbeit fertig zu schreiben. Und dann kamen die beiden Kleinen, wir zogen um, und ich eröffnete die Praxis. In den ersten Jahren habe ich ja so viel gearbeitet, damit es euch gut geht …« An dieser Stelle zog meine Mutter die Augenbrauen in die Höhe und ließ eine Ladung Luft aus den Backen strömen. »… und dann ist plötzlich mein Doktorvater gestorben – was sollte ich da machen? Fünfzehn Jahre raus aus der Uni, wer hätte meine Arbeit denn noch angenommen?«
    »Mal ganz davon abgesehen«, fügte Mama süffisant hinzu, »dass die Arbeit zu dem Zeitpunkt schon gar nicht mehr durch die Ethikkommission gegangen wäre.« Und an mich gewandt flüsterte sie: »Papa hat Medikamente an Patienten getestet!«
    »Und an mir selbst!«, sagte mein Vater, und in seiner Stimme klang wieder ein wenig Stolz mit.
    »Ja, aber …« Ich war verwirrt. Konnte man ohne Doktortitel Arzt sein? Und wo kamen die ganzen Doktortitel her, die überall in der Praxis auf an meinen Vater adressierten Briefen und Werbegeschenken prangten?
    »Als praktizierender Arzt braucht man keinen Doktortitel«, erklärte mein Vater. »Und wenn mir die Pharmaindustrie ein Praxisschild schenkt, das ich am Tor aufhängen kann, soll ich das dann wirklich zurückgeben, weil da ein Dr. zu viel ist?«
    »Lieber ein Dr. zu viel als ein Dr. zu wenig, nicht wahr?«, knurrte ich.
    Wahnsinn. Mein Vater war ein Hochstapler! Also genau genommen ja nicht, aber zumindest mir gegenüber. Jahrelang hatte er sich als Mr. Ich-zieh-alles-durch-auch-wenn’s-blutet aufgespielt, und jetzt stolperte ich über so etwas Lächerliches wie eine nicht abgeschlossene Doktorarbeit? Papa hatte etwas NICHT durchgezogen? Na, wenn das keine Steilvorlage war.
    »Also, wenn das so ist«, sagte ich und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, »dann werde ich meinen Ferienjob schon am Ende der Woche kündigen. Was du mit deinem Schummel cum laude kannst, kann ich ja wohl schon lange!«
    Und zum ersten Mal in meinem Leben fehlte meinem Vater offensichtlich nicht nur der Doktortitel, sondern auch die Worte.

9. Probesterben
    Ärzte haben ein sehr eigenwilliges Verhältnis zum Tod. Wahrscheinlich sind sie auf ihrem langen, leichengesäumten Karriereweg einfach schon so vielen Toten begegnet, dass es auf den ein oder anderen mehr oder weniger nicht ankommt.
    Dass es mit der Pietät in einer Arztfamilie nicht so weit her ist, habe ich spätestens an dem Tag gemerkt, an dem uns die Oberkrankenschwester der Intensivstation, auf der mein letzter verbliebener Opa nach seinem dritten Schlaganfall lag, anrief, um uns zu sagen, dass es mit ihm zu Ende gehe.
    Tief betrübt packten wir uns ins Auto und fuhren ins Krankenhaus. Opa lag da, bewusstlos, in seinem Körper steckten unzählige Schläuche. Neben ihm standen furchteinflößende Apparaturen, die blinkten, piepten und summten. Wir reihten uns um Opas Bett auf, die Köpfe gesenkt, die Schultern nach unten hängend, und schwiegen. Die Stille wurde nur von dem rhythmischen Brummen des Beatmungsgeräts unterbrochen, das über eine Gesichtsmaske Luft in Opas Lungen schickte.
    Das sah wirklich nicht gut aus.
    Juliane, die immer das Opakind gewesen war, heulte leise in ihren Schal. Anne drückte sich nah an Mama ran, ich stand neben meinem Vater und untersuchte die Struktur meiner Winterstiefel. Seltsam, wenn man so um ein Bett herumstand, in dem ein Mensch demnächst sterben würde. Mensch, was sag ich – jemand aus meiner Familie! Ich konnte nicht anders, auch mir zog es Minute um Minute, die wir neben Opa standen und ihm beim unselbstständigen Atmen zuhörten, die Kehle zu.
    »Der Tod kann auch Erlösung sein«, sagte mein Vater plötzlich nachdenklich in die Stille.
    Juliane sah auf, ein Tränenschleier verhängte ihren Blick. »Du bist so …« Sie verstummte, bevor sie beleidigend wurde.
    »Wieso? Ich mein ja bloß!«, verteidigte sich mein Vater.
    »Pst«, machte Mama und trat zu Opa

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