Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
Vom Netzwerk:
nähen. Die zeigte ihm einen Vogel. Wir Kinder waren in diesem Urlaub zum Glück nicht mehr dabei. Also musste er selbst ran. Unglücklicherweise hatte er vergessen, in unserem Ferienhaus ein Anästhetikum zu deponieren. So was Blödes. Und ein steriles Instrument, mit dem er den Faden halten konnte, war auch nicht zu finden. Da mein Vater aber erfinderisch ist, ließ er in alter MacGyver -Manier von meiner Mutter eine Kneifzange aus dem Werkzeugkoffer sterilisieren (zumindest so weit, wie es ein heißes Wasserbad und die anschließende Feuerzeugbehandlung vermögen) und legte los. Sechs Stiche, ohne Betäubung. Als ich von dieser Geschichte hörte, blieb selbst mir ein unflätiger Kommentar im Mund stecken.
    Weil mein Vater so ein harter Typ ist, haben wir Kinder es bei ihm nicht leicht. Dass ich seit Jahren rauche, ist ihm natürlich ein Dorn im Auge. Er hat mich sogar einmal darum gebeten, das Qualmen vor unserer Haustür zu unterlassen, immerhin sei er unter anderem auf Nikotinentwöhnung spezialisiert und könne sich nicht leisten, als schlechte Werbung seine eigene Tochter vor der Haustür quarzen zu lassen. Ich rauche seitdem immer heimlich im Garten. Als ich ihn Jahre später darum bat, bei ihm zwecks Rauchentwöhnung in Behandlung gehen zu dürfen, sagte er nur: »So ein Quatsch. Das schaffst du auch locker ohne. Alles eine Frage des Willens.«
    Mein Wille war offensichtlich nicht stark genug, denn ich rauche immer noch. Von meinem Vater kann ich meine phasenweise auftauchende Lethargie also nicht haben. Seitdem ich denken kann, werde ich von meinen Eltern mit Sprüchen wie »Ihr müsst auch mal was durchziehen!«, »Das Leben ist kein Wunschkonzert!« oder »Wenn wir das immer so lasch angegangen wären wie ihr …« anhören. Ich habe, seitdem ich denken kann, panische Angst davor, irgendetwas, sei es ein Praktikum, eine Beziehung oder eine angefangene Ausbildung, vorzeitig abzubrechen, weil ich dann immer mit dem Vorwurf konfrontiert werde, ich würde nie was durchziehen. Und mein »abgebrochenes« Medizinstudium (wie kann man etwas abbrechen, das man nie begonnen hat, frage ich mich) war wie ein ewig sprudelnder Quell des Vorwurfsflusses, der die elterlichen Mühlenräder in Bewegung hielt.
    Na gut, ich will ehrlich sein. Es gab einen Moment, da brach das mühsam errichtete Kartenhaus der Selbstdisziplin, das mein Vater in jahrelanger Arbeit errichtet hatte, zumindest etagenweise in sich zusammen.
    Ich war sechzehn und seit gerade einer Woche bei einem großen Automobilhersteller in der Nähe angestellt. Ein klassischer beschissener Ferienjob. Es waren Sommerferien, draußen herrschten 30 Grad, in der Werkshalle 40, meine Freunde gingen ins Schwimmbad, ich sortierte Schrauben für den nächsten Produktionsschritt vor und fragte mich jede einzelne beschissene Minute meiner Schicht, wie ich auf die Idee gekommen war, die kompletten Ferien über am Band stehen und arbeiten zu wollen. Gut, die knapp zweitausend Mark, die mir nach den Ferien winkten, waren verlockend gewesen. Aber schon nach drei Tagen Arbeit war ich am Ende, meine Knochen knirschten, mein Schädel dröhnte, und meine Laune war im Keller.
    Ich verkündete meinen Eltern, dass ich gedachte, die freiwillige Werksarbeit nach nur zwei Wochen zu beenden, denn unter diesen menschenunwürdigen Bedingungen könnte niemand und vor allem nicht ich länger als vierzehn Tage malochen.
    »Menschenunwürdige Bedingungen?«, echauffierte sich mein Vater. »Es gibt Leute, die machen das ihr Leben lang!«
    »Dann gehöre ich eben nicht zu diesen Leuten«, konterte ich schmallippig. Ich hatte ja nicht erwartet, dass er begeistert sein würde.
    »Zieh doch mal was durch!«, legte er nach. »Nie bringst du was zu Ende. Immer brichst du vorher ab. Ich hab das nie gemacht! Von mir könnt ihr das also nicht haben.«
    Er sah herausfordernd meine Mutter an.
    Die erwiderte verständlicherweise reichlich angefressen seinen Blick.
    »Was soll denn das jetzt heißen? Die schlechten Eigenschaften haben sie von mir, die guten von dir, oder was?«
    »Na ja«, sagte mein Vater generös, »nicht nur.«
    Da platzte meiner Mutter der Kragen.
    »Fritz, jetzt will ich dir mal was sagen! Du hast selbst nicht alles durchgezogen in deinem Leben, also tu bitte nicht so! Und hör auf, das immer von mir und den Mädchen zu erwarten.«
    Mein Vater schwieg beleidigt, ich jedoch hatte Blut geleckt.
    »Wieso? Was hat Papa denn nicht durchgezogen?«
    »Gerdi!«, sagte mein Vater warnend,

Weitere Kostenlose Bücher