Aerztekind
aber das war’s dann auch schon, denn in der Kategorie »Körper & Medizin« habe ich gegen einen Großteil meiner Familie keine Chance.
Und das, und davon bin ich absolut überzeugt, ist auch der Grund, warum sich mein Jahreseinkommen immer noch im vierstelligen Bereich aufhält, während Steuerberater, IT -Consultants, Rechtsanwälte, Ingenieure und vor allem Ärzte zum Sahnetopping unserer bürgerlichen Gesellschaftspyramide gehören, und ich am unteren Ende der Nahrungskette herumkrebse und nach meinen falsch gesetzten Konjunktiven suche. Erbärmlich!
8. Dr. No
Die Grundregel Nr. 1, die man als Ärztekind lernt, besagt: Alles ist immer für irgendetwas gut. Blut reinigt die Wunde. Eine überstandene Grippe schafft Abwehrzellen gegen die nächste Infektion. Und Fieber zeigt an, dass sich der Körper selbst hilft. Hat man Schmerzen, dann hat man irgendwas falsch gemacht, zumindest im Kopf, weil man die Heilungskräfte des eigenen Körpers nicht zu würdigen weiß.
In meiner Familie hat diese Einstellung einen recht seltsamen Umgang mit eigenen Krankheiten hervorgebracht. Mal ganz davon abgesehen, dass niemand von uns jemals auf die Idee käme, krankzumachen, also absichtlich mit einem leichten Kratzen im Hals auf Lungenentzündung zu plädieren und sich eine vierwöchige Reha an der Ostsee verschreiben zu lassen, machen wir noch nicht mal dann krank, wenn wir wirklich krank sind. Bei meiner Schwester Anne führte das dazu, dass sie sogar mal der Schule verwiesen wurde – da war sie allerdings schon Lehrerin und hatte hochansteckenden Scharlach, was sie in den ersten Tagen jedoch als »kleine Erkältung« abtat und unbeirrt ihren Dienst am Schüler antrat.
Wenn meine Mutter wie ich des Nachts von heimtückischen Migräneattacken heimgesucht wird, schmeißt sie sich im Halbschlaf ein Medikament ein, stellt den Wecker um eine Stunde später und schreibt eine SMS an ihre Kolleginnen, sie käme erst gegen neun, ob denn bitte jemand ihren ersten Patienten übernehmen könnte.
Das muss man sich mal vorstellen. Wo andere wegen ein bisschen Kopf- und Gliederschmerzen gleich zu Hause bleiben, schleppen wir unsere virusverseuchten und schmerzgeplagten Körper zu unserer Arbeit, komme, was wolle.
Auslöser dieses Verhaltens ist sicherlich die unfassbare Gleichgültigkeit, die mein Vater eigenen Krankheiten gegenüber an den Tag legt. Ohnehin habe ich nur sehr selten mitbekommen, dass er krank ist – zum einen, weil er es fachmännisch vertuscht, zum anderen, weil er über ein gigantisches Immunsystem verfügen muss, an dem alle Bakterien, Viren und Erreger einfach so abprallen. Und natürlich liegt es auch an seinem extrem niedrigen Leidenfaktor und einer geradezu übermenschlichen Schmerzresistenz.
Mein Vater, das muss ich neidvoll anerkennen, ist besonders hart im Nehmen. Wenn er am Montagmorgen nach einem Vierundzwanzigstundendienst in der Notfalldienstzentrale nach Hause kommt, bringt er immer frische Brötchen mit, frühstückt in aller Seelenruhe mit meiner Mutter, springt unter die Dusche und begibt sich dann in die Praxis hinunter, um dort bis halb acht am Abend zu behandeln. Ohne zu murren. Ohne zu jammern. Nie dringt auch nur ein einziges Wort der Klage über seine Lippen.
Als er sich einmal tatsächlich eine Angina einfing und die augenscheinlichen Symptome nicht länger ignorieren konnte, brachte er seine Vormittagssprechstunde mit 39 Grad Fieber und glasigen Augen zu Ende. Dann war zum Glück Mittagspause, also hatte Papa genügend Zeit, sich einen kleinen Medikamentencocktail zu spritzen, sich zwei Stunden auf dem Sofa im Wohnzimmer auszuruhen und nach einem kleinen Tellerchen Hühnerbrühe und mit einem modischen Mundschutz versehen gestärkt in die zweite Runde zu starten.
In unserem Ferienhaus, über das eigentlich jeder niedergelassene Arzt verfügen sollte, der die Achtzigerjahre nicht komplett verpennt hat, hat er sich einmal an einer scharfen Glaskante geschnitten. Am Schienbein. Blöde Stelle: blutet wie Sau und tut höllisch weh. Für den »normalen« Menschen. Mein Vater hatte keine Lust, den Weg ins nächstliegende Krankenhaus anzutreten, und außerdem hat er praktischerweise in jedem seiner Domizile ein Nahtbesteck deponiert. Gut, das, was er in unserem Ferienhaus zu diesem Zeitpunkt vorfand, lag dort schon seit ein paar Jahren, aber es war originalverpackt und schien steril, und damit war Papa bestens für den Einsatz am eigenen Schienbein ausgerüstet.
Er bat meine Mutter, die Wunde zu
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