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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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raste über die Straße und kam schlitternd neben dem auf dem Boden Liegenden zum Stehen. Er beugte sich über das Gesicht des Mannes, so als wolle er seinen Worten lauschen, dann ballte er eine Faust und schlug ihm mit voller Wucht auf den Brustkorb. Danach legte er seine beiden ineinander verschränkten Hände auf das Brustbein des Patienten und begann zu pumpen.
    Meine Schwester, meine Mutter und ich starrten mit offen stehenden Mündern aus dem Fenster.
    »Mein Mann«, seufzte meine Mutter, und über ihrem Kopf ploppten einige rosarote Herzchen auf.
    Anne blieb bei der Sache und wählte die Nummer vom Notruf. Fünf Minuten später bog der Krankenwagen um die Ecke, und mein Vater durfte endlich vom Brustkorb des in der Zwischenzeit wieder zu Bewusstsein gekommenen Mannes ablassen. Mit durchgeschwitztem Hemd ging Papa auf die zitternde, weinende Frau des Kollabierten zu und redete beruhigend auf sie ein. Als er sie schließlich neben ihrem Mann in die Obhut der Sanitäter übergeben konnte, wirkte er so zufrieden, wie ich ihn noch nie in meinem Leben gesehen habe. Mit breitem Gang und durchgedrücktem Kreuz stiefelte er grinsend die Straße hinunter. Wie ein Cowboy, der gerade das High-Noon-Duell gegen den schleimigen Oberganoven gewonnen und damit den Überfall auf den Geldtransport von Orange County vereitelt hatte! Ich war begeistert, beseelt, der Held da unten war mein Vater! Zur Feier des Tages applaudierten wir frenetisch und spendierten ihm eine La-Ola-Welle.
    Es ist also nicht unbedingt falsch, wenn man ab und an einen Arzt in seiner Nähe hat. Für Ärzte selbst gilt das natürlich nicht, denn die sind von anderen Medizinern umgeben und sterben trotzdem am häufigsten an akuter ärztlicher Mangelversorgung. Ich habe von einem Radiologen gehört, der hatte einen handballgroßen Tumor im Dickdarm. Ein Handball. Im Dickdarm. Ich gebe zu, Dick- ist in diesem Fall immer noch besser als Dünndarm, aber ob da wirklich SO viel reinpasst? Was sich wie eine obskure Sexualpraktik anhört, war für den Radiologen fast das Fahrticket mit dem Zug nach Nirgendwo. Was für ein Armutszeugnis! Ein Radiologe. Der ist umgeben von Gerätschaften, die nichts anderes tun, als Tumore, Gerinnsel und Fremdkörper in der sterblichen Hülle von Patienten zu suchen! Es ist vielleicht nicht vergleichbar, aber wenn ich in einem komplizierten Satzbau den Artikel falsch beuge, dann fällt mir das immerhin selbst auf.
    Doch auch wenn ich die Sache mit dem Lebenretten auf offener Straße, die Fähigkeit, einen Luftröhrenschnitt zu machen oder ein Kind auf die Welt zu bringen, schon irgendwie bestechend finde, hat es mich doch nie gepackt, die Sache mit den Buchstaben sein zu lassen und auf Spritzen umzusatteln.
    Wenn ich an meine Kindheit denke, erinnere ich mich an das Gemaule meiner Eltern über neue Ziffern im Gebührenverzeichnis, die Gesundheitsreform oder eine neue Abrechnungssoftware, Schimpfe auf die Kassenärztliche Vereinigung, faule Patienten und untragbare Arbeitszeiten bei unangebrachter Besoldung. Na gut, das Letzte habe ich dazugedichtet, denn über zu wenig Kohle haben sich meine Eltern wirklich nie beschwert.
    Bis auf einen Kinderarztkoffer aus Plastik, einen Chemiebaukasten und seinen Versuch direkt nach dem Abi hat sich mein Vater eigentlich auch nicht so richtig darum bemüht, mir die Medizin schmackhaft zu machen. Vielleicht dachte er, dass allein der Lebensstil, den er uns geboten hat, ausreiche, um uns Feuer und Flamme für die Möglichkeit werden zu lassen, vierundzwanzig Stunden lang Besoffene in der Notdienstzentrale mit Vomex zu versorgen, Platzwunden zu nähen und in der sprichwörtlichen Scheiße zu graben (und sei es nur im Stuhlgangsbefund), um herauszufinden, woran der Patient leidet.
    Das Winken mit dem Gehaltsschein mag vielleicht bei Adoleszenten funktionieren – bei Kindern und Pubertierenden, lassen Sie sich das sagen, funktioniert das nicht. Höchstens bei Erwachsenen oder erwachsenen Arbeitslosen, so wie ich gerade eine war. Eine Zehnjährige macht sich, im Gegensatz zu mir, die ich in der nicht beneidenswerten Situation steckte, meinem Vater und seinen Vorwürfen mit meiner »momentanen und garantiert befristeten Beschäftigungslosigkeit« knallhart in die Karten zu spielen, gar keine Gedanken über private Altersvorsorge und einen Beruf, mit dem man kiloweise Renommee nach Hause fährt. Eine Zehnjährige macht sich Gedanken darüber, welcher Beruf ihr Spaß machen könnte, und in dieser Zeit meines

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