Aerztekind
Lebens standen bei mir Pferdewirtin, Frisöse oder Enthüllungsjournalistin ganz hoch im Kurs. Neun Jahre später, mit Erlangung des Abiturs, hatten sich nur die konkreten Berufswünsche geändert, die Geisteshaltung blieb dieselbe: Ich wurde den lieben langen Tag zur Individualität erzogen. Ich konnte mir gar nicht leisten, denselben Beruf wie meine Eltern zu ergreifen, das wäre maßlos uncool gewesen. Außerdem konnte ich die Leier, dass wir alle ohnehin keine Rente mehr bekämen und niemals Geld verdienen würden, vorwärts und rückwärts aufsagen, daher war es auch egal, was ich werden würde. Hauptsache, es machte Spaß und ich hielt es in dem Job ein paar Jahre aus.
Ob mein Vater viel Freude als niedergelassener Hausarzt hat, weiß ich nicht mit Gewissheit. Sicher ist die Frage nach dem Spaßfaktor etwas weniger wichtig, wenn man im Jahr sechsstellige Beträge einfährt. Geld verdienen macht Spaß. Und als Arzt verdient man viel Geld. Also musste Arzt sein Spaß machen. Jedenfalls hat es genau bis zu dem Tag Spaß gemacht, an dem Horst Seehofer die Rechte und Abrechnungspraktiken der Ärzte so massiv stutzte, dass Arzt sein auf einmal nicht mehr ganz so lukrativ war wie ein paar Jahre zuvor und urplötzlich – Überraschung! – nicht einmal mehr meinem Vater besonderen Spaß machte.
Diese Einschränkungen und auch die lautstarken Beschwerden meines Vaters am Mittagstisch waren neben dem ansonsten eher bescheiden ausfallenden Versuch, mich für Medizin zu begeistern, sicherlich nicht ganz unbeteiligt daran, dass sich von drei Töchtern null Töchter für ein Medizinstudium entschieden.
Meinem Vater fiel das spätestens dann auf, als ich mit dem Magisterzeugnis wedelnd wieder zu Hause einzog.
»Germanistik? Und was macht man da?«
Bis heute habe ich keine Antwort finden können, die meinen Vater zufriedenstellt. Nicht mal der Hinweis, dass er selbst jeden Morgen Zeitung liest, kann ihn besänftigen. Erst als ich ihm erzählte, dass ich ein Buch veröffentlichen würde (und verheimlichte, dass es von ihm handelt), und ihm einen Mann präsentierte, der fast so viel Geld verdient wie er selbst in den Goldenen Achtzigern und dazu nicht über die Sozialkompetenz eines Regenschirms verfügt, entspannte er sich ein wenig.
»Jetzt ist wenigstens einer da, der dich versorgt«, sagte er circa ein halbes Jahr, nachdem ich Daniel kennengelernt und für bekloppt genug befunden hatte, um ihn meiner Familie vorzustellen.
Kurz zögerte ich. War das der richtige Zeitpunkt, um meinem Vater zu sagen, dass ich nicht im Traum daran dachte, mir jemals von einem Mann die Miete zahlen zu lassen? Außer natürlich von ihm selbst … aber er zählte in dem Fall nicht.
Erwachsen werden heißt, Dinge so sein zu lassen, wie sie sind, dachte ich und beschloss, an diesem Tag zum ersten Mal, den Widerspruch runterzuschlucken und meinen Vater damit in dem Glauben zu lassen, ich sei gut versorgt.
Aber eines wusste ich jetzt sicher: Meinen Kindern werde ich vorlesen, und zwar vom ersten Tag an. Ich werde die Lautsprecherboxen an meinen dicken runden Bauch halten und sie mit Dostojewski und Astrid Lindgren und Paul Auster volldröhnen. Sie werden wissen, was eine Partizipialkonstruktion ist, bevor sie sich die Schuhe zubinden können. Ich darf kein Risiko eingehen – am Ende werden sie noch Arzt.
7. Ich hab da mal ’ne Frage
Mein Vater ist immer auf Arbeit. Bei dem gibt es keinen Feierabend, bei dem gibt es höchstens Öffnungszeiten. Aber selbst wenn seine Praxis geschlossen ist, schiebt er Dienst, besonders dann, wenn Freunde oder Bekannte meiner Eltern oder von uns Töchtern zu Besuch kommen und am Esstisch die unappetitlichen Details ihrer maladen Innereien vor uns ausbreiten.
»Ich hab da mal ’ne Frage …«
Mit diesem Satz beginnen Geschichten des Grauens. Sie sind der verharmlosende Prolog einer garantiert stinklangweiligen, hochnotpeinlichen und viel zu indiskreten Darlegung aller Ausflüsse, Absonderungen und Besonderheiten, die der gebrechliche Körper des befreundeten Individuums hervorbringen kann.
»Ist es normal, wenn beim Pinkeln Blut kommt?«
Nein, das ist es nicht. Dafür musst du auch nicht meinen Vater um Rat fragen, das kann ich dir sagen.
»In letzter Zeit zwickt’s bei mir immer so, wenn ich mich bücke.«
Dann bück dich nicht mehr.
»Manchmal, wenn ich was gegessen habe, bekomm ich ganz schlimmes Sodbrennen. Kann das vielleicht ein Magengeschwür sein?«
Magen – nein, Geschwür – ja, aber
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