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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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wahrscheinlich genau wie der befreundete Arzt reagieren würde. Selbst wenn es schlimm wäre, würde er es nicht zeigen. Ärzte sind Meister im Verharmlosen, weshalb es dafür sogar ein eigenes Wort gibt: Dissimulation. Ärzte wollen Fakten, keine Emotionen. Und wenn ich ehrlich bin, kann ich das sogar verstehen. Wie sonst würde man diesen Beruf überhaupt ausüben können? Wenn man als Arzt nicht irgendwann zu der Erkenntnis gelangt, dass wir alle Fleisch sind und das Fleisch wie Gras ist, könnte man diesen Job wohl nicht ausüben.
    Trotzdem bin ich gekränkt. Ich habe mich mein Leben lang mit dem Herunterspielen von Krankheiten und der Aussage, dass wir alle furchtbare Hysteriker sind, herumschlagen müssen, ich möchte zumindest einmal, zumindest dann, wenn es um meinen eigenen Vater geht, das Recht haben, so reagieren zu dürfen, wie es anscheinend in der Natur des Menschen liegt: emotional und persönlich betroffen.
    Und so ganz überstanden ist die ganze Angelegenheit ja auch noch nicht. Wir haben keine Ahnung, wie es meinem Vater jenseits seiner beschwichtigenden SMS und Anrufe tatsächlich geht. Und wann er zurückkommt, vor allem: wie er zurückkommt, wissen wir auch noch nicht, weil nicht klar ist, ab wann er wieder fliegen darf.
    Eine Freundin, mit der ich gestern telefoniert habe, schlug als Transportmittel in die Heimat die Transsibirische Eisenbahn vor. »Dann bleibt dein Alter mal auf dem Teppich.« In einem Anflug von Verzweiflung habe ich auch tatsächlich nach dem Streckenplan geguckt, dann aber festgestellt, dass die Fahrt sechszehn Tage dauert und die Route ohnehin erst ab Mai wieder befahrbar ist. Und so lange wollten wir eigentlich nicht warten.
    Aber was passiert, wenn er wieder zu Hause ist? Wenn wir ihn am Stück und ohne Leichensack wieder bei uns haben? Wie geht es dann weiter? Das ist doch beängstigend, wenn so ein Arbeitstier wie mein Vater auf einmal wochenlang krankgeschrieben zu Hause rumhängen soll!
    Von Anne weiß ich, dass Papa schon neue Pläne schmiedet. Von ihr hat er erfahren, dass seine Termine in der Praxis und der Notdienstzentrale allesamt abgesagt wurden. Er hat auch eingesehen, dass er den Skiurlaub an Ostern knicken kann, und langsam scheint ihm zu dämmern, dass meine Mutter sich zur Oberbefehlshaberin seiner Rehabilitation aufschwingen und ihn in den nächsten Monaten keinen Moment aus den Augen lassen wird. Also muss er umsatteln. Und scheint seine Ausfallzeit schon bestens verplant zu haben.
    »Er sagt, dass er endlich weiß, worüber er seine Doktorarbeit schreiben soll«, sagt Anne. »Über die Gefahr von Thrombosen bei Langstreckenflügen.«
    »Das ist ein Witz«, sage ich, weil ich es für selbigen halte.
    »Keineswegs. Er meint, es sei ja nicht nur seine Schuld gewesen, dass er so wenig getrunken habe. Die Fluggesellschaft habe ihm auch nicht ausreichend Getränke beim Flug serviert.«
    Da brat mir einer ’nen Storch! Wahrscheinlich kommt er als Nächstes auf die Idee, die Fluggesellschaft zu verklagen, weil er als Passagier und Arzt nicht ausreichend auf die Gefahr von Thrombosen bei einem Vierundzwanzigstundenflug hingewiesen wurde. So ähnlich wie diese Frau in Amerika, die einen Mikrowellenhersteller verklagt hat, weil in der Anleitung nicht explizit stand, dass man Katzen nicht zum Trocknen in die Mikrowelle stecken darf. Oder diese Gerichtsurteile von Lungenkrebserkrankten, die die großen Tabakgiganten verklagten, weil ihnen angeblich nicht klar gewesen sei, dass Rauchen zu Lungenkrebs führen kann.
    Neben all meinem Spott und der Häme, die ich mit Sicherheit noch über ihm ausleeren werde, wenn er wohlbehalten zu Hause angekommen ist und auch seinen Humor aus dem Koffer geholt hat, finde ich die Idee aber gar nicht so schlecht. Zum einen, weil mein Vater dann eine Aufgabe hat. Nichts ist schlimmer als die Vorstellung, dass er uns ohne seine Praxis wochenlang unterfordert und gelangweilt auf die Nüsse geht. Dann lieber einen spektakulären Bericht über seine eigene Nahtoderfahrung schreiben und irgendwann bei Markus Lanz in der Sendung sitzen. Die Menschheit liebt Geschichten von Leuten, die um ein Haar abgenippelt wären, weil sie einen total riesengroßen Fehler gemacht haben, und die diese Grenzerfahrung mit einer buddhistischen Erkenntnis hinter sich bringen: Wer nicht trinkt, stirbt. In Afrika wissen das wohl noch ein paar andere, hierzulande scheint das weniger bekannt, ansonsten müsste die Volvic-Werbung im Fernsehen ja auch nicht immer so

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