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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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Vater an einer Altfrauenkrankheit beinahe gestorben wäre, macht mich heute noch fertig. Früher dachte ich immer, mein Vater stirbt bei einem spektakulären Unfall. Meine Mutter ist die, die sich mit chronischen Sachen rumschlägt, und doch ist es nie lebensgefährlich. Jedenfalls habe ich noch nie davon gehört, dass ein Fersensporn einen Patienten ins Grab bringt. Aber wie kann man denn bitte nicht merken, dass man Thrombose-gefährdet ist? Mir dröhnen ja schon die Waden, wenn das Thermometer mal über 28 Grad klettert, ich lege mich bei Flügen in fester gelbwurstfarbener Bestrumpfung mitten in der Nacht auf den Boden der Kabine, radele mit den Beinen in der Luft und stöhne dabei vor Schmerzen – wie KANN einem nicht auffallen, dass man sechs Wochen lang eine Thrombose hat?
    Meine Mutter zuckt mit den Schultern. »Als der auf dem Montblanc war, hat er auch nicht gemerkt, dass er höhenkrank wurde. Den New-York-Marathon ist er mit Keuchhusten gelaufen. Und den Leistenbruch hat er sich erst operieren lassen, als er sich die Hose nicht mehr allein hochziehen konnte. Ehrlich gesagt wundert mich nichts mehr.«
    Mein Vater hat immer aufsehenerregende Sportarten ausgeübt. Er hat Bungeejumping gemacht und Paragliding, war im Himalaja und in der Antarktis. Er war immer auf der Suche nach großen Abenteuern, hat dem Leben die Stirn geboten, das Risiko gesucht, war abhängig vom Adrenalin und dem aufregenden Gefühl, seinen Kopf noch einmal aus der Schlinge gezogen zu haben.
    Dieses Mal, da bin ich mir sicher, muss er den härtesten Kick seines Lebens gehabt haben.

5. Wohin die Reise geht
    Am nächsten Tag beschließe ich, meinem Vater eine Nachricht zu schreiben. Sie soll witzig und auch ein bisschen gemein sein. Ich will Stärke demonstrieren, will ihm zeigen: Wir klappen hier nicht alle zusammen, wir funktionieren. Wir halten die Stellung, bis du wieder da bist. Wir haben alles im Griff und noch immer nicht unseren Humor verloren.
    Im Gewand einer SMS klingt das dann so:
    LIEBER PAPA , WAS MACHST DU NUR FÜR SACHEN ? HEIMLICHE E- MAIL - KONSULTATION EINES KARDIOLOGEN UND DANN AUCH NOCH ZUSAMMENKLAPPEN ! KOMM DU MIR NACH HAUSE ! ☺ UND BITTE BALD , WENN ’S GEHT : WIR VERMISSEN DICH SCHRECKLICH UND SIND IN GEDANKEN BEI DIR : HALT DURCH , UND BESSERE DICH , AB JETZT KEINE FAXEN MEHR : WIR UMARMEN DICH , CARO ( STELLVERTRETENDE CHEFIN DES KRISENKOMITEES )
    Als ich die SMS später meiner Schwester zeige, hält sie die Nachricht und somit auch die Verfasserin für unsensibel. In diesem Moment begreife ich, dass ich, die ich von meinem Vater immer mit seiner medizinischen Autorität abgemahnt wurde, nun zu meinen eigenen Waffen greife, den Waffen der Sprache. Das ist mein Weg, mit der Situation umzugehen. Zum ersten Mal verstehe ich aber auch, dass Professionalität, Geistesgegenwart und Humor die beste Medizin sein können, um nicht in heillose Panik zu verfallen.
    Später am Tag telefoniere ich mit einem befreundeten Chirurgen. Das sind die Schlachter der Medizin. Wenn es nix zu schnippeln gibt, kann es so schlimm nicht sein. Das bestätigt sich auch, als ich ihm von Papas Zustand berichte.
    »Ist er intubiert?«
    »Äh, nein. Er kriegt nur Sauerstoff, atmen kann er selbst.«
    »Ach so. Na dann …«
    Ich bin beleidigt. Was heißt hier »Na dann«? Nur weil meinem Vater auf dem Weg zum Flughafen kein Arm abgefallen ist, heißt es nicht, dass die Lage nicht ernst ist. Ganz im Gegenteil: Es ist trotzdem schlimm! Er ist vielleicht aus der roten Zone raus, aber was die Langzeitschäden angeht, haben wir keine Ahnung, wie es um ihn steht. Und nur weil man ihm keinen Beatmungsschlauch in den Rachen geschoben hat, ist es nicht weniger dramatisch für uns. Wäre mein Vater in das Flugzeug nach Istanbul gestiegen, hätten wir ihn am Flughafen wahrscheinlich in einem Leichensack in Empfang nehmen dürfen. Dann hätten sich nämlich durch den veränderten Luftdruck mit ziemlicher Sicherheit noch mehr dieser blöden Blutgerinnsel gelöst, und es wären noch weitere Embolien dazugekommen. Nur weil mein Vater den Absprung von der Schippe des Todes im letzten Moment geschafft hat, ist es keine Lappalie. Nur weil er kein neues Herz oder eine neue Lunge oder zumindest einen technisch anspruchsvollen chirurgischen Eingriff braucht, trifft es uns nicht weniger. Innere Medizin ist keine Kosmetik. Allmächtiger, muss ich das jetzt wirklich einem Mann vom Fach erzählen?!
    Ich beruhige mich, als mir klar wird, dass mein Vater

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