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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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endlich dran waren – unfassbar, wie scheinheilig die Nr. 007 sein kann! –, ging alles ganz schnell. Wir erläuterten Herrn Pi Pa Po die Sachlage, die ihn aber herzlich wenig interessierte. In China leben 1,3 Milliarden Menschen – wieso sollte den Oberbonzen gerade das Schicksal eines verirrten Deutschen jucken?
    Es dauerte drei Tage, bis wir das Visum abholen und ich meine Mutter endlich in ein Flugzeug bugsieren konnte. Am Donnerstag, genau sieben Tage nach dem unglückverheißenden Anruf aus Istanbul, setzte ich Mama in Frankfurt am Gate ab. In ihrem Koffer schmuggelte sie ein Glas Nutella und zwei Flaschen Rotwein; die Betäubungsmittel, Sprengstoffe, Waffen und Radiosendegeräte sowie die Schriftstücke, deren Inhalt der chinesischen Politik, Wirtschaft, Kultur, Ethik und nationalen Sicherheit schadete, hatte ich ihr glücklicherweise ausreden können. Die waren, im Gegensatz zu allem anderen, nämlich wirklich verboten.
    Knapp vierundzwanzig Stunden später schrieb mir meine Mutter eine SMS , sie sei gut im Krankenhaus angekommen und bezöge jetzt ein Bett in Papas Zimmer. Dem ginge es schon viel besser, aber Aufstehen und Laufen dürfe er noch nicht, weshalb sie jetzt immer an der Tür zum Krankenzimmer Schmiere stehe, damit Papa heimlich die richtige Toilette besuchen könne und nicht mehr in Bettpfanne und Urinflasche machen müsse. Außerdem hätten sie direkt am ersten Abend mit einem Gläschen Merlot auf das glückliche Überleben meines Vaters angestoßen, dazu gab es ein paar Löffelchen Nutella, und sie habe auch schon viele Bilder von meinem Vater in Thrombosestrümpfen und Krankenhausleibchen gemacht. Alles sehr lustig.
    Ich las die SMS und fragte mich, ob man diese zwei Alten wirklich keine drei Minuten aus den Augen lassen konnte. Und dennoch war ich beruhigt. Darüber, dass aus der kleinen Insel, die mein Vater in den letzten Tagen gewesen war, endlich wieder ein Archipel geworden war. Dass er nicht mehr allein mit seiner Wache haltenden Krankenschwester, deren geschnittene Apfelstücke er nicht annehmen wollte, weil sie so dreckige Fingernägel hatte (er ernährte sich in der ersten Woche deshalb ausschließlich von Bananen und bekam heftige Verstopfung, die ich an dieser Stelle aber mit Absicht unter den Tisch fallen lasse), in seinem Zimmer saß und über sein Glück im Unglück nachdachte, sondern dass nun endlich jemand bei ihm war, jemand von uns, jemand, der sich um diesen fürchterlich liebens- und lebenswerten Menschen kümmerte.
    Die Wochen zogen ins Land, wir skypten alle paar Tage mit meinen Eltern, die uns erzählten, dass sie, nachdem Papa nach zwei Wochen endlich wieder auch offiziell das Bett verlassen durfte, lange Spaziergänge durch Shanghai machten. Ihr erster Weg hatte sie ins ortsansässige Paulaner Hofbräuhaus geführt, wo sie, ganz untypisch für meine ansonsten sehr kosmopolitisch aufgestellten Eltern, ein Wiener Schnitzel mit einer riesigen Portion Bratkartoffeln und sehr viel Bier bestellten, weil es Papa nach der unfreiwilligen Schonkost (Reis, Reis und Reis, dazwischen eine Banane) nach etwas Richtigem gelüstete.
    Als sie dann, exakt vier Wochen nachdem mein Vater am Flughafen von Shanghai zusammengebrochen war, an ihrem Gate auf den Aufruf zum Boarding warteten, legten sie eine kleine Gedenkminute ein. Passenderweise war es nämlich genau die Stelle, an der Papa Wochen zuvor den Boden geküsst hatte.
    Am Flughafen von Frankfurt, wo ich die beiden nach ihrem langen Rückflug an einem regnerischen Donnerstag abholte, war mir nach langer Zeit wieder einmal leicht ums Herz.
    Papa kam heim.
    Als ich ihn durch die Schiebetüren von der Ankunftshalle in den Empfangsbereich kommen sah, schossen mir, obwohl ich mir so fest vorgenommen hatte, nicht hysterisch oder sentimental zu werden, die Tränen in die Augen. Er sah so dünn aus. So ausgezehrt, so klein – mein Papa, der einzige Mensch auf der Welt, von dem ich angenommen hatte, dass er niemals ins Straucheln geraten würde.
    Aber er war gestrauchelt. Mehr sogar, er hatte die unerfreuliche Bekanntschaft mit der Endlichkeit gemacht.
    Mein Vater kam auf mich zu, breitete die Arme aus und drückte mich so fest und so lange, wie er es selten vorher getan hatte.
    »Gut siehst du aus«, log ich und war erschrocken darüber, wie sehr auch sein Oberkörper in der Zwischenzeit geschrumpft zu sein schien. Die breite Brust, mit der er sich in den vergangenen Jahren immer gern ins Leben geworfen hatte, war ein Hühnerbrüstchen

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