Aerztekind
einer von uns zur Toilette muss, kündigt er das an, als bestünde die Gefahr, dass er von dort nicht mehr zurückkommt. Das ist irritierend, und so viel Nähe sind wir alle nicht gewöhnt.
Unsere Gespräche kreisen an diesem Abend nur um meinen Vater. Ein bisschen ist das, auch wenn es noch so makaber klingt, wie bei einer Beerdigung und dem anschließenden Leichenschmaus. Weil Papa nicht da ist, wir uns aber fürchterliche Sorgen um ihn machen, müssen wir uns die verrücktesten Geschichten über ihn erzählen, müssen ihn herholen zu uns, und sei es nur in Worten und Gedanken. Die meisten Sätze des Abends beginnen deswegen mit »Weißt du noch?« und enden mit »So ein Spinner!«. Und was wir sagen, quillt über vor Zuneigung, Liebe und Sehnsucht nach ihm. Er fehlt uns. Er fehlt uns in diesen Stunden so sehr, wie er uns noch nie gefehlt hat.
Wenn er sich in der Vergangenheit auf eine seiner großen Reisen aufgemacht hat, war er in den Wochen vor dem Abflug immer so hibbelig und anstrengend, dass wir alle einmal leise aufatmeten, wenn er dann im Flugzeug saß. In den Tagen seiner Abwesenheit ist es immer ungewohnt still im Haus. Das ist am Anfang ganz schön, nach ein paar Wochen merken dann aber alle, dass dem Wagen ein Rad fehlt und wir uns im Schlingerkurs befinden. Und dann, kurz bevor er wieder nach Hause kommt, freuen wir uns alle wie verrückt. Wenn Papa wegfährt, kann man sich immer zweimal freuen: Einmal, wenn er wegfährt, und einmal, wenn er wiederkommt.
Das Gefühl, dass Papa vielleicht nie wieder nach Hause kommt, hat mir wie nichts zuvor deutlich gemacht, wie lieb wir diesen kranken Spinner eigentlich haben, selbst wenn er uns an neuneinhalb von zehn Tagen mit seiner aufgekratzten, überheblichen und besserwisserischen Art in den Wahnsinn treiben kann.
Papa fehlt. Auch weil er der Chef dieses verrückten Geschwaders ist, der, der immer einen Plan hat, der nicht lang fackelt, sondern tut. Mein Vater ist niemand, der sich mit Jammereien aufhält, sondern immer sofort nach einer Lösung sucht. Anamnese, Diagnose, Therapie. Und das ein Leben lang.
Auf uns alle hat das abgefärbt. Wir sind eine Macher-Familie. Wenn wir merken, dass Plan A nicht funktioniert, entwerfen wir innerhalb kürzester Zeit einen Plan B, einen Plan C und einen Absolut-allergrößter-Notfall-Plan-D. Wir denken nach vorn und halten uns nur selten mit den Überlegungen auf, wie irgendetwas warum und überhaupt passieren konnte. Daher sollten wir auch schon mal einen kompletten Heimkehr- und Reha-Plan für meinen Vater aufstellen. Der wird sich freuen.
»Das Eine sage ich dir«, trompetet meine Mutter, die endlich zu weinen aufgehört hat und wutentbrannt ihre Gabel in der Luft herumschwenkt, »der geht in Reha. Und wenn es das Letzte ist, was er tut!«
»Was macht man eigentlich in der Reha?«, fragt Daniel.
»Wassergymnastik, Bewegungstherapie, Entspannung, Gesprächskreis …« Meine Mutter zählt parallel mit den Fingern mit.
Wir sehen uns schockiert an.
»Kannst du dir vorstellen, dass Papa auf einer Poolnudel in einem lauwarmen Becken zwischen den Veteranen rumdümpelt und danach zur Gesprächstherapie geht?!«, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen.
Schweigen. Ich bin mir sicher, dass wir alle gerade dasselbe Bild vor Augen haben: Mein Vater, der, mit einer Poolnudel im Arm und der Golftasche über der Schulter, aufgebracht vor einem Therapeuten steht und mit den Armen wedelt: »Für so was habe ich jetzt keine Zeit! Kann man das nicht beschleunigen?!«
Ich muss lachen.
Mama grinst.
»Wie bekommt man eigentlich eine Thrombose?«, fragt Anne.
»Wahrscheinlich hat er die vom langen Hinflug bekommen. Der hat mal wieder nicht genug getrunken, da gehe ich jede Wette ein«, ereifert sich Mama. »Wenn der wieder heimkommt, der darf nix mehr! Der wird ans Sofa gekettet!«
Solange ich denken kann, hat sich Papa immer über Mama lustig gemacht, weil sie dauernd aufs Klo muss. Sie verlässt nie ohne eine 0,5-Liter-Flasche Wasser das Haus, und wenn man lange genug sucht, findet man unter dem Sitz in ihrem Auto bestimmt auch noch ein paar alte, steinharte Gummibärchen, nur für den Fall, dass einer von uns mal ins Zuckerkoma fallen sollte. Wenn sie fliegt, jagt sie sich vor Langstreckenflügen Heparinspritzen in den Oberschenkel und trägt garantiert diese hässlichen gelbwurstfarbenen Thrombosestrümpfe. Und wenn sie mit Papa zusammen fliegt, zwingt sie ihn, dasselbe zu tun. Na ja, bis auf die Strümpfe. Aber immerhin
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