Aerztekind
bringt sie ihn dazu, mehr Wasser als sonst zu trinken. Und sich einzucremen. Da sie Papa nie auf eine seiner Höhenexpeditionen begleitet hat, hat das mit dem Eincremen folgerichtig auch nicht von allein funktioniert. Daher die aktinische Keratose. Und wie sich später herausstellen soll, hat Papa auf dem gesamten Hinflug, der immerhin zweimal zwölf Stunden dauerte, keinen einzigen Tropfen Wasser zu sich genommen. Den Rotwein zum Essen ziehen wir jetzt mal ab, der gilt nicht. Mein Vater trinkt möglichst nichts, höchstens etwas mit ein paar Prozenten, stilles Wasser ist ihm ein Graus. Früher behauptete er gern, ein Kamel zu sein, das mit einem Liter Flüssigkeit drei Tage überleben könne. Ich kann nur vermuten, dass ich diesen Satz nie wieder hören werde. Der wird den Anschiss seines Lebens kassieren, wenn Mama ihn in die Finger bekommt! Eine Lungenembolie als Konsequenz einer Thrombose, die dazu auch noch selbstgemacht ist, weil man sich weigert, zu trinken. Plus die Krebsvorstufe in Ermangelung von adäquaten Eincremefähigkeiten. Bis heute! Auweia. Oder aber sie wird schweigen, ganz fies schweigen, die schlimmste Strafe überhaupt.
Und es wird ganz sicher noch schlimmer ausfallen als damals, als ich meiner Schwester Juliane, sie war gerade eingeschult worden, eine neue Frisur gemacht habe. Mit einer Rundbürste, die ich meiner Mutter aus dem Kosmetikschrank gemopst hatte. Strähne für Strähne wollte ich Jules Haare aufrollen, um ihr Locken zu machen. Doch ich kam nicht weit. Bereits nach dem Durchgang musste ich trotz Zerrens und Ziehens feststellen, dass sich die Rundbürste ins Haar verbissen hatte und ich weder das Frisiergerät noch die Haare freibekam. Die Not war groß. Also griff ich kurzerhand zu einer Schere und schnitt die Haare am Ansatz ab. Froh über diese einmalige Lösung, setzte ich die Schönheitsbehandlung fort.
Irgendwann, als Julianes lange blonde Haare nur noch eine Erinnerung an damals waren und ihr die ungleichmäßigen Stoppeln in unterschiedlichen Längen vom Kopf abstanden, betrat meine Mutter das Badezimmer. Sie starrte eine Weile auf ihre sechsjährige Tochter, die wie ein gerupftes Huhn im Windkanal aussah, und sagte nichts. Ich stand da, die verräterischen Beweisstücke Schere und Rundbürste immer noch in der Hand. Ihr Schweigen war für mich damals das Allerschlimmste.
Für einen kurzen Moment empfinde ich Mitleid mit meinem Vater. Dann denke ich an das, was wir in den letzten zwölf Stunden mitgemacht haben, und meine Sentimentalität löst sich in nichts auf.
»Ja, aber hat der nicht Durst gehabt?«, fragt Daniel.
Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Wenn du seit Jahren darauf trainiert bist, mit viel zu wenig Wasser auszukommen, dann hast du kein Durstgefühl mehr. Oder sagen wir mal so: Du stehst auf den Kick, Herr über deinen Körper zu sein und dich vom Durst nicht fertigmachen zu lassen.«
»Wow«, sagt Janek. »Nicht vom Durst fertigmachen lassen. Das klingt echt … bescheuert.«
»Und das alles nur, weil er nicht gern aufs Klo geht«, schließt Mama und schenkt sich einen weiteren Schoppen ein.
Fast wie bei Tante Erika. Die machte auch nicht gern in die Windeln und zog sie sich deswegen immer aus. Clever.
Ich fasse das noch mal zusammen, damit die Absurdität des Ganzen wirklich nicht verloren geht: Weil mein Papa nicht gern zur Toilette geht, trinkt er nicht. Und weil er nicht trinkt, kriegt er eine Thrombose. Und weil er eine Thrombose hat und sich die letzten sieben Tage mit Verdacht auf Herzinfarkt selbst behandelt hat, liegt er jetzt im Krankenhaus in Shanghai, und wir Hysteriker sitzen den halben Tag heulend zusammen und pfeifen uns die Elektrolyte rein. So einfach ist das.
Und wenn ich weiter darüber nachdenke, überkommt mich beinahe so etwas wie das Gefühl von Stolz. Ich fühle mich ein bisschen wie ein Rockstar. Denn meine sämtlichen Krankheiten kommen wenigstens von viel gutem Essen, sehr reduziertem Bewegungsdrang und einer über Jahre gepflegten Nikotinsucht und nicht von etwas so Bescheuertem, wie das Trinken zu verweigern!
»Aber eine Thrombose«, wende ich ein, die ich mich mit dicken Beinen (auch krankheitsbedingt) auskenne, »tut das nicht höllisch weh?«
»Papa hat gesagt, er hatte keine Schmerzen«, sagt Mama, und ihrem Gesichtsausdruck sehe ich an, dass sie dieser Aussage genauso viel Glauben schenkt wie der Eilnachricht, dass führende Astrophysiker der USA herausgefunden haben, dass die Erde doch eine Scheibe ist.
Dass mein
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