Aetherhertz
da mit der Dosis nicht aus. Ich kann mich überhaupt nicht mehr erinnern, wonach die Praline geschmeckt hat. Komisch nicht?“ Sie sah zu Hans hoch, der verwirrt blinzelte. Er hatte offensichtlich keine Ahnung, wovon Annabelle sprach. Aber das wollte er sich nicht anmerken lassen.
„ Wie sollen wir das Richtige herausfinden?“, fragte er ärgerlich.
“ Wir brauchen mehr Informationen über die Wirkweise der Gifte, wir brauchen Proben der Substanzen, die wir an Zellen testen können. Wir müssen alle Nachweismittel vorrätig haben. Und wir brauchen genügend Präparate zum Vergleich”, sagte Annabelle resolut. Hans nickte stumm.
Sie besprachen, dass Hans sich um die Präparate und Mageninhalte kümmern würde. Annabelle wollte in den Büchern nachlesen. Man wollte auch mit anderen Instituten telefonieren, ob die noch Material hatten.
Annabelle war beunruhigt: Obwohl es gut tat, endlich einen Anhaltspunkt zu haben, wollte sie nicht über die Konsequenzen nachdenken. Schließlich musste man davon ausgehen, dass der Wirkstoff den Pralinen bewusst zugesetzt wurde, und das wäre eine strafbare Handlung. Es lag in ihrer Hand, ob jemand angeklagt wurde. Aber wie viele sollten noch sterben?
* * *
Paul wartete im Josefinenheim auf Dr. Wendt. Er fühlte sich mehr als unwohl und außerhalb seines Horizontes. Er hatte ein paar der schwangeren Frauen auf den Gängen gesehen und der Weg bis zu dem Büro des Arztes war für ihn als Mann das reinste Spießrutenlaufen gewesen.
Er hatte nicht oft in seinem Leben mit Armut zu tun gehabt. Als er ein kleiner Junge war, waren sie oft an die Ostsee gefahren. Dort hatte er ein paar Spielkameraden gehabt, die arm gewesen waren. Er hatte erst nicht verstanden, was das bedeutete. Für ihn war es ein großer Spaß gewesen, nach Muscheln zu suchen und Krebse zu fangen. Erst später verstand er, dass die Kinder das dort oft nicht zum Vergnügen machten, und dass es selbstsüchtig von ihm war, seine Fundtiere behalten zu wollen.
Arme Leute waren etwas, was an der Hintertür stattfand. Verhärmte Frauen, die um Arbeit bettelten oder Kinder, die Botengänge machten, um ein paar Äpfel zu bekommen. In Baden-Baden war es leicht, die Armut zu vergessen. Die prächtige Stadt blitzte und blinkte bis zum letzten Knopf auf der Livree der Hotelpagen. Kaum jemand musste arm sein, es gab viel zu tun, um die Reichen bei Laune zu halten.
Es war auch noch ein Unterschied zwischen arm und einfach. Die Bauern im Schwarzwald führten kein armes, aber einfaches Leben. Sie kannten nichts als ihren Hof und die Arbeit. Die einzige Abwechslung waren kirchliche Feste, an denen man sich traf und umtrieb. Manche der einsamen Dörfer bestanden nur aus ein paar Höfen und noch weniger Nachnamen.
Die Frauen, die hier im Josefinenheim landeten, waren nicht alle arm, aber viele davon. Sie verdienten sich den Aufenthalt mit Arbeit, bis sie nicht mehr konnten. Dann gebaren sie ihre Kinder und Paul mochte sich nicht vorstellen, was danach mit ihnen passierte.
Was ihm aber gerade zu schaffen machte, war, dass er keine Ahnung hatte, wie er den Doktor davon überzeugen wollte, das tote Kind herauszugeben. Er hatte ja keinerlei rechtliche Handhabe. Er verfluchte sich: Er hatte doch letztlich nur vor Annabelle gut dastehen wollen. Jetzt konnte er nicht mehr zurück, er musste es auf sich zukommen lassen.
Als der Arzt eintrat, begrüßte Paul ihn ernst. Der Mann musterte ihn und fragte sich sicher, warum er hier war. Paul spürte, dass dieser Mann ihn eigentlich schon verurteilt hatte. In dessen Augen konnte er doch nur ein Übeltäter sein, der eine Frau benutzt hatte und nun vielleicht ein schlechtes Gewissen hatte und sich mit Geld reinwaschen wollte. Was sonst könnte einen gut gekleideten Mann hierher führen?
Paul beschloss, die Wahrheit ein wenig zu beugen.
„ Ich untersuche den Tod einer Frau, die vor sechs Tagen hier gestorben ist.“
„ Hier sterben viele Frauen.“ Der Arzt wurde sofort sehr abweisend.
„ Ja, und nach den meisten kräht wahrscheinlich kein Hahn mehr”, versuchte Paul Mitgefühl zu zeigen.
Der Arzt nickte misstrauisch.
„ Nun, meine Kollegin Fräulein Rosenherz war schon hier. Sie schickt mich heute, um Ihnen von unseren Fortschritten zu berichten.“ Die Miene des Arztes hatte sich bei der Erwähnung von Annabelle verdüstert. Paul beschloss, es einfach zu übersehen.
„ Die Frau war Russin. Wir haben mit ihrer Mutter gesprochen ...“
„ Hören Sie, Herr ...“
„
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