Aetherresonanz (Aetherwelt) (German Edition)
wieder durch die Haare und suchte mit den Augen und Händen im Raum nach den Worten.
Die Russin war wie eine Statue. Sie blickte ihn an, ihre Wangen gerötet, ihr Gesicht offen und ihre Haltung ganz ihm zugewandt. Annabelle sah, dass ihre Hand sich leicht öffnete und hob, als wolle sie Paul berühren, so wie sie, Annabelle, Paul immer berühren wollte, wenn er seine Haare verstrubbelte und seine Augen so sehr leuchteten.
Sie stand wie gelähmt, die Hand auf der Klinke und wusste nicht weiter, als plötzlich Sissi bellend gegen die Scheibe sprang. Die beiden fuhren herum, und während Pauls Gesicht bei Annabelles Anblick aufleuchtete und er ihr die Tür öffnete, verlor das Gesicht der Russin wieder jegliche Lebendigkeit und fror zu einer Maske ein. Sie verknotete schnell ihre Hände vor sich und trat einen Schritt zur Seite.
„Du warst reiten”, begrüßte Paul Annabelle überrascht. „Warum hast du nicht Bescheid gesagt.”
„Na, ihr seid ja sehr beschäftigt.” Das war sehr unterkühlt, aber mehr bekam sie gerade nicht heraus. Alles andere, was ihr auf der Zunge lag, durfte nicht gesagt werden, denn ein winziger Teil ihres Kopfes wusste, dass es nicht gut wäre.
„Ich gehe mich umziehen”, sagte sie schnell und drängte sich an Paul vorbei. Was sie ihm eigentlich hatte sagen wollen, war verschwunden, sie musste hier erst einmal weg.
In ihrem Zimmer stand sie eine Weile am Fenster und biss sich auf die Lippen. Verdammt, dachte sie. Was ist das nur für ein dummes Gefühl? Es bohrt und drückt, es entfremdet und macht reizbar. Und es war so kindisch! Sie wollte aber nicht kindisch sein, sondern erwachsen, hoheitsvoll, über den Dingen stehend, sich im Griff habend.
Während sie sich umzog, dachte sie darüber nach, wie sie das erreichen könnte. Plötzlich fiel ihr Richard Naumann ein, und sie eilte nach unten, um ihm die Arbeit abzunehmen. Oberon stand aber schon friedlich kauend und trocken im Stall.
„Es tut mir leid”, sagte Annabelle niedergeschlagen zu dem kleinen Mann, der noch die Stallgasse ausfegte. Sie nahm sich einen Besen und half ihm.
„Ärger?”, fragte Naumann. Annabelle nickte. „So ein Besuch kann anstrengend sein”, fuhr er fort.
„Ich wollte …”, begann sie, aber dann fehlten ihr die Worte. Er nahm ihr den Besen aus der Hand und stellte ihn weg. Annabelle riss sich zusammen: „Waren Sie schon einmal eifersüchtig?”
Richard Naumann drehte sich überrascht zu ihr um, dann setzte er sich auf einen Schemel und lehnte sich zurück. Ein Lachen gluckste aus seinem runden Bauch, und als er sich gefasst hatte, glänzten seine Augen.
„Ich kann mich kaum an eine Zeit erinnern, in der ich nicht eifersüchtig war”, sagte er schnaufend. Er nahm die Schirmmütze vom Kopf und rieb sich über die Halbglatze.
„Aber”, sagte Annabelle, ”Onkel Karl, … ich meine, war er nicht …?”
„Treu?”, fragte Richard Naumann. Annabelle nickte.
„Oh, sicher, ich denke schon”, sagte er immer noch lächelnd. „Aber das ist auch nicht wichtig.”
„Natürlich ist das wichtig!”, protestierte Annabelle.
Naumann sah sie an: „Ist Paul Ihnen denn untreu?” Annabelle schüttelte vehement den Kopf.
„Sehen Sie. Es ist alles nur in Ihrem Kopf.”
Annabelle hörte ihren Vater, der ihr das auch oft gesagt hatte. „ Filia dilectissima” , das war sein Kosewort für sie. Es bedeutete 'Geliebte Tochter'. „Du musst zwischen dem, was in deinem Kopf vor sich geht, und der Realität unterscheiden. Ein guter Wissenschaftler tut das. Er macht Annahmen und beweist sie. Es geht nicht um Interpretationen oder um das, was wir gerne hätten. Es gibt eine absolute Wahrheit hinter allem, sie kann aber nur von dem unvoreingenommenen Geist erkannt werden.”
„Sie haben recht”, sagte Annabelle leise. „Aber mein Kopf ist so laut, ich kann mein Herz nicht mehr hören.”
„Reden Sie mit ihm.”
„Mit Paul?” Annabelle schüttelte den Kopf. „Dann streiten wir uns wieder.”
„Streiten heißt, der Funke glüht noch.”
„Was nutzt mir der Funke, wenn das Feuer nicht brennen darf?”
Richard Naumann lachte kurz, aber diesmal klang es ein wenig bitter: „Bist du dir bewusst, wem du das sagst, Kind?” Er duzte sie plötzlich, und Annabelle spürte, dass sie eine Grenze übertreten hatte.
„Ihr habt wenigstens die Chance, das Feuer öffentlich brennen zu lassen”, sagte Naumann streng. „Lass es nicht vorübergehen.”
„Es tut mir leid”, sagte Annabelle betroffen.
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