Aetherresonanz (Aetherwelt) (German Edition)
Sie hatte eine Uhr und konnte das Vergehen der Zeit messen. Sie startete in regelmäßigen Abständen Subroutinen, die von der Programmierung vorgegeben waren. Die Schutzklappen der Sensoren mussten alle zehn Sekunden herunter und wieder hochgeklappt werden. Der Blasebalg in ihrer mittleren Sektion wurde alle drei Sekunden aufgeblasen und stieß die Luft wieder aus. Die Temperatur der äußeren Schicht wurde konstant auf 33 Grad gehalten.
Es gab viele solcher Routinen. Solange niemand im Raum war, wurden auch andere Routinen durchgeführt, die eigentlich nur während einer Interaktion durch einen adäquaten Stimulus aktiviert werden sollten. Die Bewegung der Verschlusslappen des Zugangs zur inneren Mechanik, zum Beispiel. Es gab unzählige Möglichkeiten. Einige Bewegungen modulierten den Schall, den sie produzieren konnte, andere würden die Verschlusslappen seitlich dehnen, die Enden ein wenig nach oben, dazu mussten die optischen Sensoren nach unten gerichtet werden und die Verschlussklappen sich halb senken.
Die Einheit hatte Worte dafür: blinzeln, atmen, sprechen, lächeln. Sie übte und übte.
Und wartete. Die oberen Appendices, die Hände, machten eine Bewegung, die den Stoff eines Kleides glatt streichen sollten. Aber das Kleid hing noch an einem Bügel an der Wand. Unter ihren Fingern war nur der Stahl ihrer unteren Appendices – der Beine. Aber die Enden ihrer Finger waren sensibel und sie wusste, dass sie eigentlich Haut spüren musste. Sie war noch nicht vollständig, aber sie hatte keine Routine, die sie zweifeln ließ.
Sie übte noch die schwierigste Aufgabe: Singen. Es gab genaueste Vorgaben. Sie durfte nichts falsch machen, sonst würde es ihr wie ihren Vorgängerinnen gehen. Und obwohl sie die Musik des Nests vermisste, wollte sie doch nichts mehr, als ihre Routinen perfekt erfüllen.
* * *
Es war spät, Rudolf Bader hatte kein Ende gefunden. Er war ganz schön betrunken gewesen, aber plötzlich schien er die Lust verloren zu haben. Egal, was Annabelle auch versucht hatte, er hatte immer von anderen Dingen gesprochen, als von ihrem Vater. Sie wurde müde und wütend. Hatte er vielleicht gar keine Informationen?
„Ein letztes Geschenk habe ich noch”, hatte er dann aber gesagt, und noch eine Ledermappe hervor gezogen. „Hier ist ein Briefwechsel zwischen deinem Vater und mir. Er spricht darin auch über seine Pläne bezüglich seiner letzten Reise. Das ist alles, was ich über deinen Vater weiß. Ich hoffe, ich kann dich damit ein wenig glücklich machen. Falls du noch Fragen dazu hast, können wir ja morgen noch darüber sprechen.”
Er hatte sich überstürzt verabschiedet, und Annabelle war erleichtert mit Johanna nach oben gegangen. Sie hatte gerade begonnen, die Schnüre ihres Korsetts zu lösen, als es klopfte.
„Moment”, rief sie durch die Tür. „Wer ist denn da?”
„Valentin.”
Was wollte er hier? ”Was ist?”
„Kann ich dich sprechen?”
„Es ist spät.”
„Bitte, du hast gesagt, wir sprechen noch. Du schuldest es mir.” Sie schuldete ihm nichts, aber er tat ihr leid. Für einen Moment wollte sie ihn trotzdem wegschicken, dann entschied sie sich anders, band das Korsett wieder zu und öffnete die Tür.
„Aber nur kurz”, sagte sie.
Valentin lächelte und streckte ihr die Hand hin: „Schön, dass du noch angezogen bist. Ich möchte dir etwas zeigen.”
Sie ließ die Tür nicht los: „Es ist wirklich spät und ich bin müde.”
„Bitte. Ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen, und ich kann dich nicht so gehen lassen.” Er hatte die Hand immer noch erhoben und sah sie flehend an.
Sie schüttelte den Kopf: „Valentin, bitte ...”
Er griff einfach nach ihrer Hand und zog sie aus dem Zimmer den Gang entlang. Sie erschrak, wollte aber kein Aufsehen erregen und folgte ihm durch das stille und dunkle Haus. Er hatte eine Laterne in der Hand und sie kam sich vor wie auf der Flucht. Sie umrundeten Ecken und liefen lange Gänge mit vielen Türen entlang, stiegen Treppen nach unten und kamen schließlich an eine schwere Holztür. Valentin holte einen Schlüssel aus seiner Tasche und öffnete sie. Dann griff er wieder nach ihrer Hand und zog sie mit sich. Hier sah es fast aus wie in dem Tunnel, der zum Werk geführt hatte. Sie hatte aber die Orientierung verloren und wusste nicht, in welche Richtung sie liefen.
„Du wirst es nicht bereuen”, sagte Valentin plötzlich. Er lief etwas langsamer und sah sie an. Seine Wangen waren unter einem leichten
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