Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Gebirge. Auf schroff aufsteigenden Pfaden ging die strapaziöse Klettertour auf den hohen Pass zu. In die schwindelerregenden Stiege waren oftmals Stufen aus dem Fels herausgebrochen worden und Halt bot ein Stahlseil, das an den lotrechten Felswänden entlang führte. Weiter klomm der Weg empor, selten und nur für wenige hundert Meter wand er sich hinab. Die Luft war frisch und streng geworden. Kurzer heftiger Regen setzte ein, dazu strahlte die Sonne. Gleich einer schimmernden Agraffe spannte sich der Regenbogen über Gebirge und Schlucht.
„Wir erreichen den Ararat Bosniens“, sagte das Mädchen, „den Berg der Offensiven, wo die Arche der Partisanen gelandet ist, als die faschistische Sintflut die Menschen zu überschwemmen drohte.“
„Das war vor meiner Zeit“, versetzte Mary-Jo und erntete einen stummen, durchdringenden Blick.
Neben ihnen erhoben sich dunkle Tannen, schlank, gerade und ernst, gruppiert in Schlichtheit und wie absichtlich in Auf- und Abstieg, in Rundung und Einbuchtung. Feinfaserige Sonnenstrahlbündel durchbrachen die regennassen Nadeläste, beleuchteten den Waldboden wie Bühnenschweinwerfer. Dort, wo Sand zwischen den braunen Nadeln durchtrat, war er nach dem Schauer von winzigen, pockenähnlichen Narben gezeichnet. Aufkommender leichter Wind blies die Regentropfen von den dichten Zweigen.
„Über allen Wipfeln ist Ruh“, deklamierte Mary-Jo den Vers des berühmten Landsmannes ihres Gatten. Sie schüttelte sich lächelnd, der herabfallenden Regentropfen wegen, fuhr mit den Fingern in den Kragen ihrer Feldbluse.
„Bruder Baum mit den gezählten Tagen“, gab Lepa Brena zur Antwort, „Fassade der Wälder, wo die Wolke zerbricht.“
„Das klingt hübsch“, sagte Mary-Jo. „Wenn auch ein wenig melancholisch.“
„René Char verfremdet mit seinen Versen die Natur“, erläuterte Brena. „Was will Goethe?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete Mary-Jo. „Atmosphäre verströmen?“
„Vielleicht neigen wir dazu, das Bild des Dichters zu vereinfachen. Hat Goethe nicht einen Großteil seines Lebens damit verschwendet, Isaak Newton zu widerlegen, und sich immer tiefer in Irrtümer verstrickt?“
„So ließe es sich sagen, und ich denke, dass seine irrige Meinung über die Lehre der Farben und die Beschaffenheit des Lichts sein anachronistisches Weltbild widerspiegelt; moderne Physik passt weniger gut zu seiner alchimistischen Magie und seinem sophistischen Mephisto.“
„Die Masse der Menschen soll glauben, glauben an einen allgewaltigen, furchtbaren Gott, der unsichtbar im Licht wohnt und mit seinem Hilfswerkzeug Teufel die Seelen beherrscht. Wahr sind wohl die wirklichen Eigenschaften des Lichts, das allein alles Leben ermöglicht und den ambivalenten Charakter besitzt, Strahlenwelle und Materieteilchen gleichzeitig zu sein. Wenn man das als Gott bezeichnet...“
„So wie der Mensch Liebe und Hass zugleich auszuleben imstande ist, gut und böse in einem sein kann? Wie mag das angehen? Wie soll man sich das vorstellen?“
Lepa Brena ergriff einen dicken hohlen Pflanzenstängel vom Wegrand, schnitt ihn rasch in ein bleistiftgroßes Stück, blickte durch ihn hindurch wie durch ein Fernrohr geradewegs auf Mary-Jo und fragte: „Was sehen Sie?“
„Dasselbe wie Sie, nur aus anderer Perspektive: einen Kreis.“
„Genau.“ Das Mädchen hielt das kleine Röhricht quer. „Und nun?“
„Jetzt kann man es im Querschnitt als längliches Rechteck ansehen. Ich verstehe: Einerseits rund, andererseits eckig, und in der Mitte ein ausgedehntes Loch.“
„Wie das Licht Welle und Materie zugleich ist. Jedenfalls besteht alles im Universum aus Energie und Sternenstaub, von der Entstehung bis zum Tod einer dieser Myriaden von Sonnen, in ewigem wiedergeburtlichem Kreislauf. Nicht ein einziges Atom geht je verloren. Alles in unserem Leben: die Anstrengungen, die Gedanken, die Träume, die Blicke, das Lächeln, die Worte, die Seufzer“, deklamierte Lepa Brena, „wie unser Literaturnobelpreisträger Ivo Andric zu erklären pflegte und fortfuhr...“
„Wir sollten es gut sein lassen“, unterbrach Mary-Jo, „und uns einfach an der Poesie erfreuen.“ Die Majorin bedachte das Mädchen gleichwohl mit einem bewundernden Blick. „Sie lesen bemerkenswerte Bücher.“
„Warum nicht?“ entgegnete Lepa Brena. „Bücher sollten für jeden Menschen zugänglich sein. Haben Sie je den Koran gelesen?“
Mary-Jo schüttelte den Kopf.
„Ich freilich lese manchmal auch in der Bibel“,
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