Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Schritte, stockte, stolperte, stürzte und raffte sich sogleich wieder auf; er kam, ohne sich ein einziges Mal umgeblickt zu haben, auf den Konvoi in der Bodenwelle zu.
Von der Höhe wurde nicht mehr geschossen. Nur die Gewehre der bosnischen Soldaten knatterten weiter Feuerstöße, um einem zu helfen, dem nicht mehr zu helfen war.
Der Begleiter des Jungen kam heran, ohne sich umzuschauen, und sprang in Deckung hinter einen Panzerwagen, fünf Schritt weit von Anica entfernt. Auf seinem schweißtriefenden Gesicht stand ein strahlendes Lächeln; er hielt seinen Helm fest, den er beim Laufen beinahe verloren hatte.
„Also doch noch geschafft bis zu euch!“ keuchte er und atmete zufrieden auf.
Der Unteroffizier antwortete nicht und blickte mit der Reporterin an ihm vorbei, dorthin, wo auf dem Grat dunkel und unbeweglich der kleine Körper mit vorgereckten Armen lag.
Nun erst, unter dem zwingenden Einfluss dieser an ihm vorbeiblickenden Augen, tat der Soldat endlich das, was er schon vorher etliche Male – zehn-, zwanzig-, wenn nicht fünfzigmal – hätte tun sollen, tun müssen: Er wandte sich um und sah jetzt ebenfalls die kleine starre Gestalt auf dem Hügelgrat.
„Oh, das habe ich gar nicht gemerkt“, sagte der Soldat nur, so, als habe er jemandem auf den Fuß getreten.
Weder der Unteroffizier, noch die Reporterin reagierten, sie schauten weiter zu dem Jungen hinüber, den sie für tot hielten, und hofften trotzdem auf eine noch so schwache Bewegung zum Zeichen, dass sie sich irrten.
„Und ich habe gedacht, er sei die ganze Zeit hinter mir“, sagte der Soldat und fügte in verändertem, gleichsam entschuldigenden Ton hinzu: „Nie im Leben hätte ich gedacht, dass es nicht so ist.“ Das erleichternde Gefühl, selbst heil davongekommen zu sein, hatte ihn bis jetzt auf keinen anderen Gedanken kommen lassen.
Der Unteroffizier und die Reporterin, die auch darauf nicht antworteten, bemerkten unverhofft drüben im Gras eine Bewegung; erst die eine, dann die andere vorgestreckte Hand. Nun zuckte auch ein Bein, dann – ein wenig – der ganze kleine Körper. Der Junge begann, vorwärts zu kriechen. Doch entweder konnte er nicht sehen oder er wusste nicht, was er tat, jedenfalls kroch er nicht auf die Bodenwelle zu, sondern dorthin, wohin er mit dem Kopf voran gestürzt war – auf die gegnerischen Serben zu.
„Los, geh und hol ihn!“ befahl der Unteroffizier dem Soldaten. Dabei konnte er wie auch die Reporterin auf dessen Gesicht ablesen, dass dieser Mann jetzt freiwillig nirgendwohin gehen und niemanden holen würde. Nach der überstandenen Todesgefahr war in ihm der Elan gebrochen, der ihn angetrieben hatte, mutig den Hang hinaufzueilen. Das Antlitz des Soldaten glich einer stehengebliebenen Uhr. Der schmallippige Mund stand rund offen, die graubraunen Augen starrten weit aufgerissen, an der etwas schiefen langen Nase hing ein Tropfen.
„Warum sollte ich“, rief der Soldat nach einigen Sekunden und setzte mit schriller, fremder Stimme hinzu: „Und weshalb geben Sie mir diesen Befehl?“
Der Unteroffizier griff nach seiner Pistolentasche, die Reporterin wollte seine Hand greifen, doch er zog sie wieder zurück. Anica begriff, wäre er allein mit ihm hier, so würde er ihn losjagen, diesen elenden Kerl, der es nicht ein einziges Mal für nötig gehalten hatte, sich umzublicken. Natürlich musste man ihn zurückjagen, zu dem Jungen. Doch das jetzt hier vor den Augen der Soldaten und der Journalistin zu tun, war dem Unteroffizier offenbar unmöglich, unschlüssig verharrte er einen kleinen Moment.
„Da geht doch schon wer“, rief der Soldat mit der gleichen schrillen Stimme, dem gleichen Gesichtsausdruck und wischte sich den Tropfen von der Nasenspitze.
Ruckartig wandte sich der Unteroffizier um, schaute ungläubig. Der Krieg schien drogenähnliche Nebenwirkungen zu haben. Verborgene Energien, die im Innersten des Menschen schlummerten, setzten sie frei, und den Alltagsverstand, die gewohnte Stimme der Vernunft, schalteten sie kurzerhand aus. Ohne nachzudenken schien die Journalistin die Tür zwischen dem Leben und sich zuzuschlagen. Sie war unversehens aufgestanden und rannte so schnell sie konnte durch das Gras zu dem Jungen hin, der immer noch in Richtung der serbischen Stellungen kroch.
„Halt! Hier geblieben!“ schrie der Unteroffizier und nach einem Augenblick des Innehaltens: „Gebt Feuerschutz! Feuer aus allen Rohren auf die verfluchten Serben! – Besteht Verbindung zu den
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