Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
beklagen und mehrere Verletzte“, stieß er durch die Zähne aus und sah dabei in das bleiche Gesicht seines Untergebenen. Und obgleich seine Worte unpersönlich formuliert waren, ließ seine Miene keinen Zweifel, dass sie sich nicht auf die Serben bezogen, sondern auf den unglückseligen Kameraden.
„Aber der Junge ist doch am Leben geblieben“, wollte sich der Unglücksmensch rechtfertigen.
Mit dieser Bemerkung brachte er alle noch mehr gegen sich auf. An den toten Kameraden dachte er schon gar nicht mehr, den hatte er wohl bereits abgeschrieben. „Der Junge ist doch am Leben geblieben.“ Und der Kamerad? Dieser Soldat hatte versucht, in wenigen Minuten mehr für diesen fremden Jungen zu tun als mancher leibliche Vater während eines ganzen Lebens für seinen eigenen Sohn tat, und hatte sein Leben eingesetzt für seinen Vorgesetzten und die Kriegsberichterstatterin. Ohne Befehl war er hingegangen, um zu retten und zu schützen, und wurde für sie getötet.
„Und Ihr toter Kamerad hat zudem in ein paar Minuten vorhin seine eigenen Kinder zu Waisen gemacht!“ rief der Unteroffizier; und dieser infame Kerl dachte schon nicht mehr an ihn. „Was haben Sie sich eigentlich bei Ihrer eigenmächtigen Aktion gedacht?“
„Das Paradies ist jedem gewiss, der einen Ungläubigen tötet“, entgegnete der Soldat im Brustton der Überzeugung.
„So ein hirnverbrannter Unsinn“, rief Anica aufgebracht. „Was aber den Jungen angeht, so weiß ich zufällig, dass er mit dieser Art Religion nichts zu tun haben will. Wer gibt Ihnen das Recht, einen kleinen Jungen...“
„Wer hat Ihnen erlaubt, den Jungen mitzunehmen?“ fragte der Unteroffizier der Journalistin das Wort abschneidend. „Wären Sie doch allein gegangen, wenn es Sie so sehr danach gelüstete! Wie kommen Sie dazu, über das Leben eines anderen Menschen, eines so jungen noch dazu, zu verfügen?“
„Wo er es doch selbst so gewollt hat! Er hat es sich nicht aus dem Kopf schlagen lassen mitzukommen“, gab der Unglücksrabe erschrocken zurück. „Es ist für den Jungen eine Frage der Ehre, einen echten Kampf zu bestehen.“
„Seien Sie doch still!“ schrie Anica.
Der Unteroffizier antwortete nicht und dachte für sich: Möglicherweise ist es ja wirklich so gewesen. Aber ein Schuft bist du trotzdem! Und der arme Junge wird sterben, fürchte ich.
„Zwei Kugeln, meint der Sanitäter“, sagte die Journalistin. „Eine in den Bauch und eine in die Seite.“ Vielleicht die, die mir durch die Hand gegangen ist.
„Wenn er rasch auf den Operationstisch kommt, kann er es eventuell überstehen“, meinte der Unteroffizier. „Aber Sie, Frau Reporterin, haben noch einen Streifschuss rechts hinter der Schläfe abgekriegt. Bleiben Sie sitzen! Wie fühlen Sie sich?“
Anica war niedergesunken, tastete die Stelle unter den Haaren ab. Verkrustetes Blut spürte sie, erinnerte sich jedoch nicht, wann es passiert war. „Halb so schlimm“, sagte sie. Anderen geht es dreckiger, fügte sie für sich hinzu, doch du bist gleich wieder im Hotel. Sie musste an Dragan denken, nicht ohne dass ein beklommenes Gefühl in ihr hochstieg. Er darf diese gefährlichen Flüge nicht mehr durchführen, oder er muss mir schwören, sie alle stets heil zu überstehen. Die Hand in ihrer Jackentasche klammerte sich um das elfenbeinerne Sandührchen. Jedes Sandkorn bedeutet Glück, dachte Anica, denn ein Sandkorn ist ein Augenblick der Schöpfung, und das Universum hat Milliarden Jahre dazu benötigt, es hervorzubringen...
Wo bin ich, fragte sie sich, was ist geschehen?
Ohrenbetäubendes Getöse und Geknalle hatte sie aus dem Einnicken gerissen. Hatten denn alle Naturgewalten gleichzeitig einen Tobsuchtsanfall bekommen? Noch im Halbschlaf hörte sie sich selbst schreien. Ihre Stimme erschreckte sie mehr als die Explosion. Jäh begriff sie, was los war.
Die Detonation hatte wie dumpfes Donnergrollen geklungen. Es musste also eine D-20-Haubitze gewesen sein. Ihr laienhaft geschultes musikalisches Gehör konnte gleichwohl nach zwei Minuten fast jeden beliebigen klassischen Komponisten an seinem Stil erkennen. Im Kriegsszenario von Bosnien spielten Artillerie und Maschinengewehre die Musik, und ihr Ohr hatte sich mittlerweile in die Tonlagen der Waffen eingehört. Am Geräusch der Schüsse konnte sie erkennen, um welche Waffen es sich handelte. Sie hatte die Schule des Bürgerkrieges absolviert und wusste, dass der von Menschenhand gefertigte Donner namens D-20-Haubitze dem göttlichen
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