Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Granatwerfern?“
„Sollten denn welche nachrücken?“
„Sofort Funkverbindung herstellen! Jedermann soll von da aus schießen, wo er sich gerade befindet!“
„Jawoll!“
„Losgegangen ohne Befehl, ohne Erlaubnis abzuwarten, ohne ein Sterbenswort zu sagen!“
Das alles rief der Unteroffizier, gerichtet an jedermann und niemandem, ohne den Blick von dem Jungen und der Journalistin zu wenden, die sich jenem kleinen Körper geduckt näherte. Er wurde das Gefühl nicht los, dass die Serben jeden Augenblick das Feuer wieder eröffnen konnten. Man musste die beiden decken mit allem, was überhaupt zu Gebote stand!
Die Reporterin stieg den Hang hinauf, hielt sich jedoch unterhalb des Grats, denn sie wollte erst unmittelbar bei dem Jungen hinüberkriechen, damit nur noch ein kurzes Stück im offenen Gelände vor ihr lag. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen. Drohte den Brustkorb zu sprengen. In der Nähe des Jungen angekommen, legte sie sich flach auf den Bauch und robbte zu ihm hinüber.
Sogleich knatterte vom Hügel oben ein Maschinengewehr los, ein Feuerstoß, eine zweite Garbe, eine dritte... Ein Ruck durchlief Anicas Körper. Aber die Reporterin robbte weiter. Noch eine vierte Feuergarbe, sie tat einen verzweifelten Schritt nach vorn, eine fünfte – und sie fiel, sackte zusammen. Scheiße, dachte sie, so schnell kann das also gehen, und sie war in höchstem Maße verblüfft darüber, welch vielfältige Gedanken das Gehirn in der allerletzten Sekunde des Lebens zu produzieren imstande war; wenn es einen so traf, verlosch das Lebenslicht abrupt, nicht allmählich, so wie im Kino die Beleuchtung ausging, sondern blitzartig wie ein schwarzgezappter Bildschirm. Der Kreis von Ursache und Wirkung hatte sich geschlossen, und das Schicksal machte ihr keine Hoffnungen, dass er sich wieder öffnen würde. Die gefallene Journalistin Anica Klingor zuckte noch einmal zusammen, blieb liegen, rührte sich nicht mehr.
Nur der Junge, für dessen Leben sie ihr eigenes aufs Spiel gesetzt hatte, kroch trotz des Kugelhagels langsam in der verkehrten Richtung weiter.
55 Die feindlichen Frauen in Poesie und Luftkampf
Die Frauen am Gebirgssee, die junge Soldatin und ihre US-amerikanische Gefangene, schwiegen, sahen sich kurz an, senkten die Blicke, und als die Sonne ihre Uniformen getrocknet hatte, brachen sie auf. Sie schoben die Fahrräder um den See, dann war der Blick frei auf das sich vor ihnen hinstreckende Tal. Ihnen war, als öffneten sich nach beiden Seiten die mächtigen Bergketten wie Soffitten der Ewigkeit, um in ihrer Tiefe dem großen und geheimnisvollen Spektakel der Weltenschöpfung Raum zu geben. Es schien, als könnten sie hier die formende Hand des Schöpfers noch im befruchtenden Akt beobachten. Fern im Hintergrund, nur zu ahnen, erstreckte sich ein tiefes, von Buchenhängen gerahmtes Tal, in dem sich das alte Silberstädtchen Srebrenica versteckte, Mary-Jo würde das Weichbild der idyllisch gelegenen 6000-Einwohner-Stadt sofort erkennen, da sie es oft genug aus der Vogelperspektive ihres Black Hawk gesehen hatte. In östlicher Richtung neben der Stadt deutete sich die Gebirgsbarriere an, die Bosnien von Serbien durch die Drina trennte, die eine tiefe Schlucht durchfloss. Die schwindelerregenden Höhen des Gebirgszuges ließen einen Hoffnungsfunken in Mary-Jo aufglühen, wirkten sie doch, von dichtem Gewölk eingehüllt, weiter entfernt als sie es in Wirklichkeit waren. Nur auf dem westlichen Rücken lag noch der Abglanz der Sonne. Die übrigen Berggipfel standen dunkel und massiv, faltenreich und gewaltig, als wollten sie sagen: heute werdet ihr uns nicht nahe kommen.
Die Frauen setzten sich auf die Fahrradsättel und kamen bald rasch voran. Nur als ein Kleinverband dreier F-16A-Abfangjäger über sie hinweg in eine dunkle Wolke düste, kamen sie ein wenig ins Schlingern. Der Weg war nicht zu schmal und die stetig abschüssige Strecke führte nicht so steil bergab, wie Mary-Jo es befürchtet hatte. Die Füße ruhten abwechselnd auf dem Rücktritt der Pedale, ohne Anstrengungen mit sich zu bringen. Zwar brannte die Sonne unerbittlich wie je im Sommer des Balkans, doch verschaffte der Fahrtwind den Radlerinnen Kühlung.
Ohne Rast fuhren sie bis hinunter zum nächsten Plateau, einer grünen Oase inmitten der kargen Ödnis der himmelhohen Berge. Mary-Jo war enttäuscht, dass sie nicht blieben. Die Fahrräder wurden bei einem Posten der Miliz abgegeben, es ging zu Fuß weiter direkt ins
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