Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Das ist nicht deine Zeit, es ist nicht dein Glück, nicht deine Freude, es gibt keine Kinder, kein Haus, kein Badezimmer, kein gemeinsames Erwachen, kein Leben...“ Sie wischte sich mit dem Ärmel die Tränen. „Verlange ich etwas Unmögliches?“ fragte sie mit erstickender Stimme.
„Aber nein“, antwortete Mary-Jo sanft, beschwichtigend. „Nein, liebe Brena, warte nur noch ein wenig, etwas Geduld, für jeden kommt irgendwann die Zeit...“
„Einen gibt es, den ich geliebt habe. Aber er ist für mich nicht mehr erreichbar...“
54 Anica wird niedergeschossen, fällt
In der ersten Hahnenschreikälte verkündeten die feindlichen Maschinengewehre einen neuerlichen Kriegstag, klangen jedoch bald wieder aus. „Munition ist kostbar“, sagte der Unteroffizier und verteilte seine morgendlichen Befehle, gedämpft durch Flüsterton und sich nur langsam lichtendem Nebel.
Allmählich trat Totenstille ein, vibrierend vor Spannung und Gefahr. Anica horchte. Das ist die feindselige Stille der Gefahr, dachte sie, im Gegensatz zu der Stille eines Dorfplatzes um die Mittagszeit oder der Stille im Refektorium einer Internatsschule, nachdem die Zöglinge zu Bett gegangen waren. Heillose Angst drohte sie zu überfallen. Eine Fliege surrte vor ihrem Gesicht herum und versuchte, auf ihrer Nasenspitze zu landen. Sie knatterte lauter als eine Maschinenpistole. Warum muss sie ausgerechnet vor meiner Nase herumschwirren, fragte sich die Journalistin, sie macht mich verrückt, dieses fette Vieh, das vermutlich so wohlgenährt ist von den Wunden der Kriegsopfer.
Der Soldat und die Journalistin bemerkten, dass die UN-Fahrzeuge den Rückzug antraten, und plötzlich spuckte wieder eine leichte Maschinenpistole Störfeuer. Es war nicht auszumachen, wem es galt. Der UN-Wagenzug stoppte, verhielt in Deckung und Schutz der Bodenwelle. Die Reporterin und der Unteroffizier hoben vorsichtig ein wenig die Köpfe über die Mauersteine, um sich einen Überblick zu verschaffen.
„Wem gilt das?“ fragte die Reporterin.
Der Unteroffizier zuckte die Schultern, schwieg. So redselig er am Abend noch gewesen war – die Journalistin sollte zu ihrem Bedauern keine Gelegenheit mehr bekommen, weitere Informationen von dem Soldaten zu erhalten, dessen Handeln so sehr im Widerspruch stand zu seinen Einsichten.
Aus der MP oben wurden unvermittelt erneut kurze Feuerstöße abgegeben. Alle schreckten zusammen. Ein Trupp bosnisch-muslimischer Soldaten gesellte sich zu ihrem Unteroffizier. Schweigend kauerten sie hinter ihm wie Hundertmetersprinter kurz vor dem Startschuss.
Plötzlich sahen sie, was los war: Über den diesiggrauen Hang bewegten sich zwei Personen, eine große und eine gedrungene Gestalt. Sie warfen sich nieder, standen auf, um ein paar Schritte weiterzulaufen, und gingen unter dem Maschinenpistolenbeschuss erneut in Deckung.
Der Unteroffizier wollte gerade den Befehl erteilen, den beiden Feuerschutz zu geben, als die Soldaten von selbst auf den Gedanken kamen und mit langen Feuerstößen die Anhöhe unter Beschuss nahmen. Die feindliche MP verstummte zunächst, doch dann bellte sie wieder los, und ein MG gesellte sich dazu. Man war offenbar entschlossen, die beiden weder lebend durchkommen noch rückkehren zu lassen.
Wieder warfen jene zwei Menschen sich auf den Boden, hetzten weiter, um sich abermals hinzuwerfen, jetzt schon ziemlich nahe der Bodenwelle, wo es nicht mehr gefährlich war. Als sie jetzt ein letztes Mal losrannten, schreckte die Reporterin zusammen: durch das Teleobjektiv erkannte sie in der zweiten, kleineren Gestalt einen Jungen, der ihr sehr gut bekannt war. Djmal.
„So ein verdammter Schuft!“ zischte sie zum Erstaunen des Unteroffiziers durch die Zähne; sie fluchte freilich nicht über Djmal, sondern über den anderen, der imstande war, einen kleinen Jungen zu einem solchen Kommando mitzunehmen.
Der ehemalige Hotelboy und jener andere, dessen Gesicht nicht zu erkennen war, sprangen auf und liefen bis zum Kamm der Bodenschwelle, wo sie von einer plötzlichen MG-Garbe erfasst wurden. Der Erwachsene rannte weiter, während der Junge taumelte, stehenblieb.
Himmel noch mal, dachte Anica entsetzt, es hat ihn erwischt. Der Junge hatte gehofft, mit dem Kampf werde sein eigentliches Leben beginnen, und nun war es eben damit vorbei.
Djmal stand noch zwei, drei Sekunden aufrecht, doch dann stürzte er zu Boden, keine zehn Schritte vor dem beginnenden Gefälle.
Jener andere aber, der vorauslief, rannte noch ein paar
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