Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Naturgrollen glich. Schüsse, die wie das Kreischen des Rotmilans klangen, stammten aus einem belgischen MG, die der amerikanischen M 16 schmetterten wie ausgehungerte Lachmöwen. Die Schüsse der modernen automatischen Maschinengewehre vom Kaliber .500 hingegen trommelten wie Regentropfen auf Wellblechdächer. Donnernde, kreischende, trommelnde Schüsse erschienen wie Musik eines Panikorchesters. Wenn das Leben zum Alptraum wurde, gerieten die Sinne zu Folterinstrumenten. Anica fühlte sich hochgehoben und in den Panzer eines dieser sechsrädrigen Kübelwagen geschoben. Ein totenähnlicher Schlaf erlöste sie auf dem Rückzug des UN-Konvois von dem Bewusstsein der erdrückenden Wirklichkeit.
Auf einem Friedhof stiegen die Toten aus ihren Gräbern, setzten sich auf die Kirchhofsmauern und sahen sich das Schauspiel in Bosnien-Herzegowina an; die Torheit des Lebens war einfach zu komisch. Die Toten begrüßten ihre neuen Nachbarn in den frischen Gräbern und plauderten ein wenig mit ihnen, um zu erfahren, was sie hierher getrieben hatte. Bei den Toten ging es nicht anders zu als bei den Lebenden, wenn ein neuer Nachbar im Viertel einzog.
Die Verblichenen gelangten an ein frisches Grab, und ihr siebter Sinn sagte ihnen sogleich, dass hier etwas nicht stimmte. Da lag ein Mensch unter der Erde, der noch nicht tot war. Seine Finger kratzten unermüdlich in der frisch aufgeworfenen Erde und seine schmalen Lippen murmelten gebetsmühlenartig: „Draga sestra, draga sestra, draga sestra...“
Man beschloss, ihn herauszuholen und über ihn Gericht zu halten. Wenn er unschuldig war, so durfte er sterben. War er hingegen schuldig, dann sollte er zum Leben verurteilt und aus dem Totenreich verbannt werden.
Der lebendig Begrabene indes war schwer verwundet und offenbar nicht bei Sinnen. Er brabbelte beständig „liebe Schwester“ vor sich hin, konnte sich hingegen nicht verteidigen und die Toten kamen zu keinem Urteil.
Ein jung verstorbener Kämpfer mit den Gesichtszügen des Stari-Grad-Hotelpagen Djmal – an seinem Skelett hingen noch Reste von rotem Fleisch, das allmählich in blaugrünliche Farbe überging – schlug vor, ihn sterben zu lassen und anschließend über ihn zu richten. Dieser Vorschlag stieß jedoch auf erbitterten Widerstand. Das Totenreich sei doch keine Schutthalde! Man könne doch nicht über das Geschick eines Menschen entscheiden, von dem man nichts wusste. Solange er nicht bei Bewusstsein sei, könne kein gerechtes Urteil gefällt werden. Womöglich handele es sich um einen Verbrecher, der die Gnade des Todes überhaupt nicht verdiene, und so einen solle man bei sich aufnehmen?
Ein Skelett äußerte die Meinung, man solle ihn, solange er nicht einer der ihren wäre, zu seinem Wohnort zurückbringen. Dort würde er schon auf angemessene Weise behandelt und bei Erfüllung der Aufnahmebedingungen zurückgeschickt werden.
Wer dafür sei, dass der Schwerstverwundete zu den Verrückten zurückgeschafft würde, solle seinen Schädel in die Hand nehmen und hochheben, rief ein besonders langes Skelett, wer dagegen sei, solle seinen Schädel lassen, wo er ist.
Die Mehrheit der Schädel stieg in die Höhe, und es war beschlossen, dass der Fremdling wieder zurück sollte.
Daraufhin hingen die Toten Anzeigen an alle Gräber, in denen sie ihre Trauer darüber zum Ausdruck brachten, dass diese junge Seele durch die Hand des Lebens dem Tod entrissen war. Sie nahmen seinen Sarg auf, und die Prozession der Toten zog Gebete für den Lebenden murmelnd nach Sarajevo. Voller Trauer setzten sie ihn an seiner nächsten Unruhestätte vor einem Krankenhaus ab und versenkten ihn in die Nacht.
Der diensthabende Pförtner fand den Schwerstverwundeten und schleppte ihn zur Notfallaufnahme, wo bereits Dutzende von Verletzten warteten. Anica rollte stöhnend die Augäpfel hinter den Lidern, ihre inwendigen Augen erkannten befremdet den Nachtportier mit dem ungefügen Haupt aus dem Stari Grad und ihr geistiges Ohr hörte ihn überdeutlich sagen: „Der kommt mit Gewissheit nicht durch. Warum hat man ihn nicht gleich auf den Friedhof gebracht?“
57 Zwei Frauen im Krieg
Die Frauen auf dem Berg fassten einander bei den Händen und umklammerten mit den anderen Fäusten schweigend die dünnen Stämme zweier Birken, sie vergaßen sich und ihre eigene Furcht, die sie eben noch gefangen hielt, vergaßen ihre Feindschaft und alles auf der Welt, blickten nur starr zum Himmel empor, von Entsetzen erfüllt. Die gleichermaßen
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