Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
selbst die Posten am Gefängnis zogen die Köpfe ein. Als die dritte Serie krachend detonierte, entstand Unruhe unter den UN-Delegierten. Sie telefonierten, befahlen, fuhren und rannten los, planlos hin und her, und merkten nicht, dass wieder Ruhe einkehrte und die Waffen vorläufig schwiegen.
69 Brena und Paul
Auf einem Wachturm traute sich ein Soldat aus der Deckung. Er nahm ein Präzisionsgewehr in Anschlag, sah durch das Zielfernrohr, und sein rechter Daumen ertastete den kleinen Hebel, dessen Stellung ihm anzeigte, dass die Waffe gesichert war. Mit zusammengekniffenem linkem Auge schaute er sich unter den Menschen um, die vorsichtig wieder die Straße betraten. In sein Blickfeld geriet eine Gestalt, die seine besondere Aufmerksamkeit weckte. Sie schritt wachsam, bedächtig an einer Häuserzeile entlang, schaute sich dann und wann um, so als ob sie sich verfolgt glaubte, und blickte wieder lauernd nach vorn. Der Soldat fixierte ihren Kopf im Fadenkreuz seiner Zielvorrichtung und dachte: Das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe, und wie schön erst, wenn die Haare wieder nachgewachsen sind. Und jetzt lächle mal, Kleine, sagte er zu sich, das wird mir Glück bringen und ein langes Leben; lächle also, ich kann warten. Aber lauf jetzt bloß nicht davon.
Paul Zudeck-Perron schob, nachdem diese eigentümliche Stille angebrochen war, das Teleobjektiv seiner Kamera aus der Deckung eines Hauseingangs und nahm den Soldat auf dem Wachturm ins Visier, fixierte, löste aus. Dann erst durchfuhr ihn ein jäher Schreck, und er interessierte sich für das Objekt der militärischen Aufmerksamkeit. Das Zielfernrohr war auf einen Punkt nicht weit neben ihm gerichtet, er beugte sich vor, lugte vorsichtig um die Ecke, und was er in wenigen Metern Entfernung erblickte, veranlasste ihn zu panischem Handeln. Er stürzte, die Kamera mit dem klobigen Tele voraus, hervor und warf sich über das Mädchen. „Mensch Brena“, keuchte er, „siehst du denn nicht, dass der Kerl da oben es auf dich abgesehen hat?“
Das Mädchen und der Fotograf schauten auf und erblickten auf dem Wachturm den Soldaten, der sein Gewehr heruntergenommen hatte und den Kopf schüttelte. Als das Mädchen heraufwinkte, erwiderte er den Gruß, getraute sich jedoch nicht, wieder das Zielfernrohr zu benutzen, ob die Kleine womöglich lächle.
„Du Dummer“, wandte sich Lepa Brena an Zudeck-Perron. „Das ist doch einer der unsrigen. Ich glaube, dass es vielmehr du auf mich abgesehen hast.“ Dabei trat ein weiches Lächeln auf ihre Lippen. Sie schmiegte sich an seine Lederjacke, der Fotoreporter spürte ihren zarten Körper und hielt ihn festumschlossen. Er stand ganz still, gedankenversponnen, und streichelte Brenas Bürstenhaare.
„Pavle“, sagte Brena ganz leise, hielt ihm eine Wange hin. „Ich freue mich, dass du wohlauf bist.“
„Und ich erst“, antwortete er und drückte sie fester an sich, „dich wieder so gesund und munter bei mir zu haben.“ Er küsste Brena, erst auf die Wange, versuchte dann, ihre Lippen zu berühren.
„Schäm dich, Pavle“, sagte sie. „Du hast dich gar nicht verändert.“ Sie wollte sich von ihm lösen. „Du tust mir weh!“
„Wir werden nichts tun“, versprach er, sie widerstrebend loslassend, „was dir Schmerzen bereitet.“
„Wir werden tatsächlich nichts tun“, sagte Brena. „Aber wir können über die vergangene Zeit sprechen und über deine Arbeit. Ich möchte gerne mehr erfahren und auch etwas von deiner Arbeit verstehen.“
„Nein“, gab er zurück. Seine Arme erschlafften, er küsste sie auf die Haare. „Nein, am klügsten ist es, gar nicht erst über die Vergangenheit zu reden. Vielleicht über die heutigen Ereignisse. Und was morgen ist, weiß der Himmel.“
„Du hast Angst, Pavle, ja?“
„Das ist es nicht. Das heißt, ich sorge mich um dich. Gerade jetzt mache ich mir solche Sorgen um dich, dass ich gar nicht mehr an mich denke.“
„Das darfst du nicht, Pavle. Ich habe schon so viel überstanden, und Schlimmeres als das.“
„Gut. Dann reden wir über Sarajevo. Wir beide in Sarajevo.“
„Ich denke nicht daran!“
„Nicht mal als Gedankenspiel, Lepa Brena?“
„Hör doch auf, Pavle, ich bin so müde. Können wir uns nicht setzen, und ich kann ein wenig schlafen?“
Er setzte sich mit ihr auf eine niedrige Mauer, und sie lehnte sich an seine lederne Brust. „Ich weiß“, flüsterte sie unvermittelt, „dass auch wir schreckliche Sachen gemacht haben. Ich auch.
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