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Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Titel: Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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Aber nur, weil ich ungebildet bin und es nicht besser verstehe. Die anderen aber tun es absichtlich und bewusst. Auch ihr von den UN, ihr seid die Vertreter der Kultur, von der sie lernen und Waffen erhalten. Ihr seid die verfaulende Frucht der Kultur der westlichen Industriegesellschaft. Was seid ihr nur für Menschen? Die Nachfolger der Schurken wie Hitler, Franco und Mussolini, aber auch der Kriegspräsidenten von Amerika und Russland und Frankreich. Aber was für wunderbare Menschen gibt es trotz allem unter euch? Es gibt keine besseren und keine schlimmeren Menschen auf der Welt. Keine gütigeren und keine grausameren. Und wer soll diese Menschen eigentlich verstehen? Ich nicht. Ich verstehe nicht einmal die Menschen unserer Völker. Sonst würde ich verzeihen können. Ich glaube, ich kann es nicht. Verzeihen heißt verstehen. Oder umgekehrt. Doch meistens meint man den anderen, der verzeihen soll. Verzeihen ist überdies ein christlicher Begriff, und Bosnien-Herzegowina ist nie ein christliches Land gewesen. Hier haben seit jeher andere, archaische Bräuche geherrscht und eigene Gesetze gegolten. Ach, Pavle, Pavle, vielleicht werden deshalb hier so viele Männer verstümmelt, noch mehr Frauen geschändet und unzählige Kinder für immer verdorben...“
    Brenas Stimme war immer leiser geworden, und der deutsche Kriegsberichterstatter schreckte aus seinem Schlummer auf, weil er sie ruhig und regelmäßig atmen hörte, er wusste, dass sie schlief, und hielt sich vollkommen still, um sie nicht durch seine Bewegungen um den notwendigen Schlaf zu bringen. Bald nickte Zudeck-Perron selbst wieder ein, in tiefen Schlaf verfallend, und merkte nicht, wie die junge Frau nach einigen Minuten aufschreckte und ihn verließ, ihrerseits sehr darauf bedacht, ihn nicht zu wecken.

70 Die Eskalation
     
    Turbinengedröhn näherte sich, die Dorfbewohner sprangen auf und liefen davon. Der Oberst nutzte die Gelegenheit sich zur Flucht zu wenden, obwohl auch seine Augen immer noch unfähig waren, klar zu sehen, doch Zurufe wiesen ihm die Richtung. Er taumelte über den Platz, immer wieder zu Boden stürzend und sich immer wieder aufraffend. Die UN-Soldaten zielten nach ihm, schossen gleichwohl nicht, um die Zivilbevölkerung nicht zu gefährden. Schließlich rettete sich der Oberst in die grauen Regenschleier, die den Blauhelmen die Sicht nahmen. Eine junge Mutter mit zwei Kindern umrempelnd, die orientierungslos auf der Stelle verharrte, kam der Gefängniskommandant atemlos den Zurufern immer näher, bis deren Hände ihn ergreifen und auf den Weg westwärts zur Schlucht ziehen konnten.
    Auch Ball hatte das Gewehr in Anschlag genommen und sorgfältig gezielt. Anica hatte es beobachtet: seine verkniffene Miene, seinen nervösen Zeigefinger am Abzug, die Gier des Soldaten in den Augen, der bereit war, bedingungslos ins Kampfgeschehen einzugreifen. Nun ließ er wütend die Waffe sinken und schwang sich über die Mauer. Ein kleines Mädchen von vielleicht fünf Jahren kroch auf ihn zu. Er erkannte die Tochter des Obersten. Sie war an der Hand der Mutter losgelaufen, doch plötzlich war die Hand nicht mehr da gewesen. Das Kind war halbtot und auf einem Auge blind. Es krabbelte auf allen Vieren, getrieben von der Angst vor den Fremden, vom Wunsch beseelt, sich irgendwohin zu retten, wo die Fremden nicht waren. Bekleidet war das Mädchen mit einer löchrigen schwarzen Wollstrumpfhose und einem zerfetzten Baumwollkleid. Das lange Haar klebte ihr, vom Regen durchnässt, in Strähnen im schmerzerfüllten Gesicht. Als der Master Sergeant vortrat, spürte das Mädchen instinktiv die Nähe des Fremden und wollte sich umwenden, wollte ganz schnell zurück, doch der junge Stabsfeldwebel hatte es wie einen begehrlichen Gegenstand brutal am Arm gegriffen. Das Kind blinzelte mit dem gesunden Auge und Ball erstarrte, als sie sich umdrehten und sich Anica mit dem Gewehr des Master Sergeant im Anschlag gegenübersahen.
„Loslassen“, sagte die Journalistin. Ball rührte sich nicht. Das Kind wimmerte. Anicas Stimme war sehr ruhig, als sie weitersprach: „Seien Sie auf der Hut, Ball, Master Sergeant, Sir. Ihr Gewehr hat einen frühen Druckpunkt, ich kann ihn schon fühlen.“
    Ball zog die Stirn kraus.
    „Lassen Sie das Mädchen los“, forderte Anica noch einmal und sehr ruhig.
    Ball versetzte dem Kind einen Schubs, so dass es vor Anicas Füße fiel. Er wartete, bis die Journalistin das Gewehr abgelegt hatte, und trat Schritt für Schritt heran,

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