Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
bekommen. Und im Hintergrund müssten der Oberst und die Helikopterpilotin Mary-Jo mit Lepa Brena deutlich zu erkennen sein, sagte sich der Fotograf hoffnungsvoll und verzweifelt zugleich. Gleich hab ich dich wieder, dachte er, meine kleine Bosnierin. Durch den Sucher erkannte er, wie der UN-Kommandeur bis auf zehn Meter an den Oberst herangetreten war, der Mary-Jo mit seiner MP bedrohte.
Master Sergeant Ball hatte das Gewehr in Anschlag genommen, zielte peinlich genau mit zugekniffenem Auge.
„Okay“, rief der Blauhelm-Offizier. „Lassen Sie das Mädchen laufen.“
Die Journalistin löste die Leine. „Lauf, Kleine“, rief sie dem Mädchen zu. Auch der Oberst hatte seine Geisel freigegeben, Mary-Jo schritt langsam an dem Kind vorbei auf den Hausgang und die Journalistin zu.
In diesem Augenblick drückte Master Sergeant Ball ab, während Lepa Brena vor ihren Oberst trat. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen, die Hände ins Haar verkrallt, sahen Anica und Zudeck-Perron, wie die schöne Brena unvermittelt ohne Kopf dastand und ihr Körper dann langsam zu Boden sank.
„Sie Mörder!“ rief Anica. „Sie feiger Mörder!“ Der Verlust der jungen Frau nahm sich unter den Farben ihres ständigen Alptraums als schwere persönliche Katastrophe aus.
Zudeck-Perron schlug die Hände vors Gesicht. Außer einem winselnden Stöhnen brachte er keinen Laut über die Lippen.
„Ich habe auf den Oberst gezielt“, erklärte Ball böse. „Ehrenwort!“ Seine Augenlider flatterten.
„Dann sind Sie ein mörderischer Versager!“ schrie Anica. Sie ließ von dem Soldaten ab, weil Mary-Jo ihr keuchend in die Arme fiel. „Gott sei Dank“, stöhnte die Pilotin. „Wie geht es Burkhart?“
„Er wartet auf dich“, antwortete Anica.
„Na also“, sagte Master Sergeant Ball. „Hab ich doch gleich gewusst, dass für uns dabei was rausspringt! Sie sollten mir dankbar sein. Und den Oberst greife ich mir auch noch!“
„Gar nichts werden Sie!“ sagte der UN-Kommandeur. „Die Operation Safe Haven Light Mission ist abgesetzt. Wir kehren zurück.“
„Nice surprice“, sagte die Journalistin traurig mit belegter Stimme und sah dem Körper Lepa Brenas nach, die von ihren Kameraden fortgetragen wurde.
„Zurück wohin?“ fragte Paul Zudeck-Perron krächzend, er hatte die Fassung und Stimme wieder leidlich zurückgewonnen, sich scheinbar mit der Situation abgefunden.
„Nach Sarajevo“, antwortete der Blauhelm.
„Bis zur nächsten Mission Liberty?“ fragte Anica. „Wo wird das sein? Hier in Srebrenica? Das will ich sehen! Ich bleibe.“
„Tun Sie das nicht“, beschwor sie der UN-Offizier. „Das Dutchbat hat die Sache voll im Griff. Man wird alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um die Enklave zu schützen, wenn es sein muss auch Gewalt.“
„Jetzt begreife ich“, fasste sich Dragan Miculic an den Kopf, „was der fünfmal wiederholte Funkspruch dieses Oberst Tom Karremans zu bedeuten hat. Die zugesagte Luftunterstützung der NATO fiel aus wegen Morgennebel.“
„Komm, Dragan“, sagte Anica. „Man hat uns hinters Licht geführt! Wir gehen hin.“
Plötzlich krachte Granatfeuer der Serben über sie herein.
„Niemand kommt in die Enklave hinein“, erklärte der Blauhelm, stellte sich dem Paar in den Weg. „Sperrgebiet. Absolute Nachrichtensperre.“
Anica und Dragan sahen sich hilflos an.
„Was geht vor in Srebrenica?“ fragte die Reporterin.
Dragan schüttelte stumm den Kopf.
„Ich will heim“, sagte die Kampfpilotin Mary-Jo, „nur heim.“
„Wer will das nicht?“ fragte Dragan Miculic. „Aber das ist die andere Seite.“
Eine Granatendetonation zerriss ohrenbetäubend krachend die Luft. Geschosssplitter sirrten jaulend umher. Der Frachtflugzeugführer hielt sich unvermittelt den Hals, in den ein großer Splitter eingeschlagen war.
Anica Klingor erbleichte.
„Mein Gott“, rief Zudeck-Perron. „Es hätte mich treffen können.“
71 Srebrenica
Dragan war glücklicherweise nicht schwerverletzt, man hatte ihn zur Sanitätsstation gebracht. Anica hatte sich hinter dem Rücken des abgelenkten Blauhelms auf den Weg gemacht, und als sie in der Enklave Srebrenica eintraf, fand sie den Standort der niederländischen Blauhelme vom sogenannten Dutchbat leer. Keiner der Schutzbefohlenen war mehr da. Und auch kein Mensch, der hätte berichten können, was sich ereignet hatte. An einer verputzten Mauerwand las sie die angepinselte Aufschrift UNITED NOTHING, und was sie sonst einzig fand war ein
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