Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
alles angeboten wird, was der Weltmarkt hergibt. Aber was sollten sie sonst hier tun als materielle Besitztümer ansammeln? – Geistige Werte? Der Geist des Balkans ist ihnen unbequem, nicht geheuer. Ob er einen Wert verkörpert? Keinen, der sich auszahlt oder an der Börse ablesen lässt; also lohnt es nicht, darüber nachzudenken. Sie glauben, genug über den Balkan zu wissen, wenn sie hin und wieder sonntags ein Kloster, eine Moschee besuchen oder eine der landestypischen Brücken bestaunen. Und das, was man hierzulande Theater nennt, empfinden die Besucher als eine Zumutung; die Bücher – obgleich nur zum Teil in kyrillischer Schrift – können sie nicht lesen, vermutlich wäre es ohnehin nur vergeudete Zeit; die Musik? – tja, die folkloristischen Töne à la original Oberkrainer klingen ihnen angenehm in den Ohren, sie sind meist wie die Schlager verwestlicht; aber sonst...
„Sie träumen“, unterbrach Kamensiek Anicas Gedankenflut, „...von ihm?“
„Burkhart verrät meine tiefsten Geheimnisse“, sagte sie.
„Ich kann schweigen“, behauptete er halblaut, „seien Sie unbesorgt. Doch man könnte denken, Sie schämten sich Ihres Freundes.“
„Haben Sie diesen Eindruck? Das täte mir leid. Ich verstecke ihn ja keineswegs.“
„Er macht sich selbst rar. Ich höre, er sei sehr anziehend. Ein richtiger Abenteurer noch...“
„Woran erkennen Sie einen Abenteurer?“
„Wenn jemand nicht gerade Schlips und Kragen beziehungsweise Berufskleidung trägt“, murmelte er kopfwiegend, „kann ich einen Bankangestellten nicht von einem drachenfliegenden Bergsteiger unterscheiden.“
„Kann man auch nicht. Außer mit ein wenig Übung. Wenn Sie sich hierzulande lange genug umsehen, bekommen Sie vielleicht einen Blick dafür. Arbeiten Sie auch in der Vertretung?“
Er nickte. „Aber nicht direkt. Ich bin nur für die Computeranlagen zuständig. Sie besitzen doch ein Bild Ihres Freundes?“
Anica trug eines bei sich, schüttelte jedoch den Kopf. Ihre blonden Haarspitzen berührten fast seine Nase. „Leider“, sagte sie.
„Macht nichts. Ich will auch nicht neugierig sein.“
„Wieso? Neugierde ist auch eine Eigenschaft von Abenteurern. Es gibt Millionen Dinge auf dieser Erde, die man ohne sie nie entdeckt.“
Kamensiek lachte auf. „Es ist so oft zu hören“, sagte er mit gedämpfter Stimme, „dass diese Burschen so sehr geschätzt werden. Ist er nicht Serbe? Was haben die Kerle nur so Besonderes an sich? Ist es der herbe Charme ihres verwegenen Typs, ihre äußerliche Attraktivität oder welcher Anspruch verbirgt sich dahinter?“ Sein Gesicht näherte sie dem ihren. „Gerade die Südländer sollen auf unerhörte Art ihre Leistungsträgerschaft in der Liebe beweisen. Wahre Meister der Liebeskunst. Ist es das, was die Damen so an sie fesselt?“
„Schon möglich.“ Was sollte sie diesem gespreizt redenden, in Managerkategorien denkenden, verklemmten Mann anderes entgegnen? „Die Menschen haben viele schätzenswerte, liebenswürdige Eigenschaften. Nicht so einfach, alle aufzählen zu wollen.“
„So“, sagte er bemüht lächelnd. „Und was macht diese Kerle zu Meistern in Sachen Liebe? Ihre Körperlichkeit? Angeborene Triebhaftigkeit? Sind sie hemmungsloser als unsereins? Beherrschen sie etwa Dinge, von denen wir nichts wissen oder höchstens träumen können?“
Anica wandte den Blick ab, gab sich den Anschein nachzudenken.
Was erwartet der Knilch eigentlich von mir? Doch nicht, dass ich ihm mit Intimitäten aufwarte! Augen hat er wie ein krankes Vieh. Vielleicht hat er nicht die richtige Frau. Sie blickte dem Mann seitlich aus den Augenwinkeln ins Gesicht. „Man braucht manchmal diese Art Konversation, sich quasi warm zureden, um sich in einen Zustand zu versetzen, der einem ansonsten versagt bleibt“, äußerte sie in einem leichten Plauderton und fuhr, als er vernehmlich tief Luft holte, fort: „Ich denke, Sie sind da auf einer ganz falschen Fährte. Mit Verlaub gebe ich Ihnen einen Rat. Schließen Sie Bekanntschaft mit möglichst vielen Menschen an jedem beliebigen Ort. Freunden Sie sich mit den Einheimischen an! Sie werden abenteuerliche und erotische Mentalität dort kennen lernen, wo sie sie am wenigsten vermuten.“ Außer bei sich selbst, fügte sie in Gedanken hinzu; er wird es niemals begreifen, sich selbst immer ein Fremder bleiben.
Anica drehte mit ihrer rechten Hand einen Gegenstand in ihrer Jackentasche um und um. Es war eine Miniatursanduhr, die ihr Liebster ihr
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