African Queen
bringt es die Macht der Briefe zurück. Briefe, die schneller fliegen als die schnellste Taube und schneller auch als jede Boeing 747. Und die Macht der geschriebenen Worte ist größer als die der gesprochenen. Weil sie nicht vom Atem getragen werden, sondern vom Geist. Und weil sie ohne die Pausen rüberkommen, in denen man nach Worten ringt. Eine Mail zu schreiben ist wie ein guter Schuss mit Pfeil und Bogen. Man nimmt die richtige Stellung ein, man spannt die Sehnsucht, man zielt und lässt ihn fliegen, den Gruß des Herzens, auch den Gruß der Schmerzen, der Angst, der Hoffnung und den ganzen Kram. Ja, und dann wartet man, bis man wieder im Hotelzimmer ist, um nachzusehen, ob der Pfeil ins Schwarze getroffen hat. So funktionieren Liebesmails, wenn die Liebe in Ordnung ist; wenn nicht, kann die Unmittelbarkeit des Internets auch Probleme machen. Dann trifft der Pfeil, um nur ein Beispiel zu nennen, ins Schwarze des schlechten Gewissens. Lisa schreibt, dass sie mich sehr vermisst, so sehr, dass es schon weh tut, und gestern Abend sei es besonders schlimm gewesen. Und ich weiß sofort, warum, denn gestern Abend habe ich mich um ein Haar in Dede verliebt, gestern Abend war mein Herz komplett woanders unterwegs, gestern Abend habe ich Lisa mal kurzfristig verlassen. Heute Morgen ist alles wieder im Lot und das Herz wieder am rechten Fleck, also bei dir, Lisa, wo denn sonst, bis auf dieses winzige Stückchen Herz, das noch immer vom Mitleid für Dede besetzt ist. Das schreibe ich ihr natürlich nicht, sondern das, was sie hören will, und was Dede betrifft, so versuche ich wie geplant, mich den ganzen Tag von ihr fernzuhalten.
Das Hotel «La Madrague» ist ein ausgezeichneter Ort dafür. Die Architektur, das Mobiliar, die Farben und der Swimmingpool, alles ist mediterran, alles zeugt von einer touristischen Hochkultur und dem guten Geschmack des in Marseille lebenden russischen Besitzers. Außerdem gibt es Wachen vor den Eingängen, weder der Strand noch die Straße kommen herein, und ich denke, das ist das Entscheidende für mich an diesem Tag, denn so halte ich mich nicht nur fern von ihr, sondern sie auch fern von mir, und dass ich mit diesem Rückzug hinter die Mauern des Hotels auf meine «Black President»-Freunde ebenfalls verzichten muss, passt mir gut in den Kram. Sie gehen mir ohnehin bereits auf die Nerven, denn sie trinken inzwischen quasi aus Gewohnheitsrecht Tag für Tag auf mein Wohl und auf meine Kosten, und es werden immer mehr. Auch deshalb scheint mir eine Pause von Senegal haargenau das Richtige zu sein.
Ich bin reif für ein Buch. Ich habe Alexandre Dumas dabei, «Die drei Musketiere». Bisher kannte ich nur etwa zwölf Verfilmungen seines Romans. Jetzt lese ich ihn endlich einmal. Wahnsinn. «Würden Monsieur die Güte haben, seine Klinge zu ziehen, um meinem Degen Genugtuung zu leisten?» Dumas ist geil. Aber immer wenn ich das Buch aus der Hand lege, kommt das Mitleid für Dede wieder hoch. Und es wird mit jeder Lesepause stärker. Und jedes Mal sehe ich dabei folgendes Bild: Dede sitzt am Strand und schaut traurig aufs Meer. Wo ist er? Warum kommt er nicht? Hört er mich nicht? Mein Herz ruft wie bekloppt nach ihm. Das sind die Fragen, die ich zu diesem Bild in Dedes Kopf vermute, und das tut mir weh.
Egal, wo ich bin, egal, was ich tue, das Mitleid löst sich nicht auf, im Gegenteil, es verfestigt sich, es manifestiert sich körperlich, es wird organisch. In meinem Bauch spüre ich einen leichten, aber permanenten Schmerz, der hin und wieder auch mal intensiver pocht, sogar übel wird mir manchmal. Ich halte tapfer dagegen, ich halte die Stellung sozusagen, und natürlich frage ich mich auch immer wieder mal, was eigentlich der Unterschied zwischen Mitleid und Liebe ist. Ich finde keine befriedigende Antwort darauf. Erst als ich das Wort Liebe durch das Wort Begehren ersetze, komme ich weiter. Denn die Gewissheit, Dede nicht zu lieben, beruht auf der Gewissheit, sie nicht zu begehren, und der Unterschied zwischen Mitleid und Begierde ist klar. Das Mitleid will geben, die Begierde will nehmen. Das Mitleid liebt, die Begierde nicht. 1 : 0 für Dede. Und was bedeutet es (nächste Frage), wenn man eine Frau nicht vergessen kann? Dass man sie nicht liebt? 2 : 0 für Dede. Wenn es also doch Liebe ist, eine Liebe, so sanft, unschuldig und zärtlich wie Dedes Händedruck neulich in der Gasse, ist es dann nicht eine Sünde, diese Liebe zu verlassen? 3 : 0 für Dede. Aber: ICH WILL NICHT! ICH LIEBE
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