Afrika Quer (German Edition)
erfahren hatte, dass sie sehr wohl Eltern und eine Familie haben. Die Jungen kamen vom Land, hörte ich im Niger nun. Ihre Eltern waren es, die sie zu einem Marabu, einem islamischen Lehrer, in die Stadt geschickt hatten. Das änderte alles. Nun wollte ich einen dieser Koranschüler kennen lernen.
In Kano hatte der Gouverneur Rabiu Musa Kwankaso behauptet, die Zahl der Koranschüler in der Stadt durch die Aufklärung der Eltern drastisch verringert zu haben. Inzwischen schickten sie ihre Kinder lieber in die öffentlichen Schulen, anstatt sie betteln gehen zu lassen, wurde er in einer Tageszeitung zitiert. Diejenigen Jungen, die man jetzt noch auf den Straßen sah, kamen aus dem Niger. Im Niger hörte ich dann, diejenigen die man hier sah, kamen aus Nigeria.
Der Gouverneur von Kano hatte ein Komitee zur Ausrottung des Problems eingerichtet. Und dessen Vorsitzender schrieb, als ich in Kano war, in einem ganzseitigen Beitrag für die Tageszeitung „This Day“, die Koranschüler mussten eigentlich nur deshalb betteln gehen, weil die britische Kolonialmacht das islamische Erziehungssystems zerstört hatte.
Ich jedoch hatte meine Zweifel. Denn ich erinnerte mich schließlich, dass ich schon etwas über diese Koranschüler gelesen hatte. Also guckte ich nach, als ich wieder in Deutschland war, und wurde in Gustav Nachtigals Reisebericht fündig. Der deutsche Arzt war 1869, also mehr als dreißig Jahre vor der britischen Kolonisierung Nord-Nigerias, durch die heutigen Länder Niger, Nigeria und Tschad gereist.
Die Bettelstudenten gab es schon damals, las ich in Nachtigals Reisebericht. Genau wie die heutigen Talibé hatten sie ihre Dörfer verlassen, um in den städtischen Zentren den Koran zu studieren. Der Unterschied war lediglich, dass sie anstatt der Töpfe und Plastikschüsselchen eine Kürbisschale zum Betteln benutzten.
In der Gegend des heutigen Maiduguri zum Beispiel trugen sie eine Art Uniform, ein um die Schultern und Hüften geworfenes Ziegen-, Leoparden- oder Hyänenfell. Zusätzlich zum Betteln, machten sie damals oft Hilfsarbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und weil sie deshalb nur am frühen Morgen oder am späten Abend studieren konnten, lebten manche bis ins hohe Mannesalter so.
Heute war es den Städtern peinlich, dass man die bettelnden Kinder, ihre Armut, offen auf den Straßen sah. Deshalb behaupteten die einen schlicht, die Koranschüler kämen aus einem anderen Land, und der politisch Verantwortliche schob die Schuld einfach auf die Kolonisierung.
So ging’s. Das Problem blieb, aber niemand konnte dafür verantwortlich gemacht werden - außer den Briten. Bevor die gekommen waren, hat das Erziehungssystem noch gut funktioniert. Sie hatten wieder einmal eine gute Tradition zerstört, die bestimmt auch heute noch äußerst brauchbar wäre. Und dass es damals noch genügend Arbeit gegeben hatte, so dass sich einige der Studenten etwas dazu verdienen konnten, war dabei nur das lauteste Symptom der afrikanischen Entwicklung.
Heute, als nur noch die Renten- und Verteilungsökonomie geblieben war, übernahm das Klientendasein, die Wohltätigkeit. Ich war also wieder einer afrikanischen Geschichte auf der Spur.
Der 13-jährige Elias Gadou lebte als Almajiri bei einem Marabu im Vorort Bani Fandou I der nigrischen Hauptstadt Niamey. Er besaß nur eine zerrissene Hose und zwei alte Hemden. Außer seinem Topf zum Betteln, den er mit einer Schnur als Stirnband über dem Rücken trug, wenn er loszog, hatte er nichts, keine Decke, kein Handtuch, keine Zahnbürste, keinen Becher oder sonst irgendetwas.
Er schlief auf einer Bastmatte unter einem Dach aus Ästen im Hof seiner Schule. Und wenn es nachts zu kalt wurde, durfte er sich auf den Betonboden der Baracke legen, in der am Tag die jüngsten Schüler unterrichtet wurden.
Ob es ihm in der Schule gefiel, fragte ich ihn. „Es gefällt mir gut, aber manchmal habe ich zu wenig zu essen“, sagte er.
Nach dem Morgengebet hatte er zwei Stunden Unterricht, aß das, was noch vom Vorabend übrig war, hatte wieder zwei Stunden Unterricht und lief dann die vier Kilometer in die Stadt zum zentralen Markt, um zu betteln.
Wenn er nur wenig Zeit hatte, klapperte er mit den anderen Kindern die Nachbarschaft ab, rief vor den Toren der Grundstücke „Almajiri, Almajiri“ und bekam mit etwas Glück ein bisschen vom Mittagessen der Leute. Nachmittags um 16 Uhr 30 kam er wieder zurück zu zwei Stunden Unterricht und ging am Abend wieder betteln.
Doch
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