Afrika Quer (German Edition)
in den siebziger Jahren noch tschadischer Präsident war, und aus den Sara, der größten ethnischen Gruppe des Südens, noch die Mehrzahl der Staatsangestellten rekrutiert wurden, nannte man Moursal heute noch „Viertel der Intellektuellen“. Dass Moursal so war, wie es war, zeigte also nur, wie tief die Bevölkerung des Tschad nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges gefallen, wie weit das Land im Endzustand war.
Toussaints Lehrerin war Mitte dreißig und ein bisschen pummelig. Sie wirkte gemütlich mit ihrem dunklen Rock und ihrer gestreiften Bluse. Ihr Haar hatte sie zu einem strengen Knoten auf dem Kopf gesammelt.
Kurz nach acht Uhr kam sie mit einem Bündel Papieren unter dem Arm und einem langen Keilriemen in der Hand über den Hof geeilt. Dann ließ sie die Schüler strammstehen und zu ihrem Kommando im Gleichschritt in das Klassenzimmer einmarschieren.
Sie hatte 104 Schüler in ihrer Klasse und heute, zum letzten Schultag des zweiten Trimesters, drängten sich über neunzig in den Bänken.
Die Lehrerin setzte sich ans Pult, füllte Zeugnisse aus und ließ die Kinder laut aus einem Französisch-Buch vorlesen. Die Schüler waren alle Südler. Lesen und Schreiben lernen sie in Französisch, die Nordler dagegen in Arabisch.
Bevor die tschadischen Kinder in die Schule kommen, sprechen sie jedoch in den seltensten Fällen Französisch. Das bedeutet, sie müssen Lesen und Schreiben in einer Fremdsprache lernen, und so lasen sie in Toussaints Klasse auch. Selbst die wenigen, die sich meldeten, mussten längere Wörter raten.
Und sie verstanden auch nicht, was sie lasen. Als die Lehrerin am Ende der Stunde Verständnisfragen zu dem kurzen Text stellte, konnte sie bis auf zwei, drei Ausnahmen kein Kind beantworten.Wenn es Kinder gab, die wirklich eine Antwort gaben, dann gaben sie gleich eine falsche.
Wohl weil ich dabei war, rief die Lehrerin auch Toussaint auf. Der Übungstext war schon dreimal vorgelesen worden, aber er brummelte wieder einmal vor sich hin, so leise, dass man alles mögliche verstehen, und so stockend, dass man es eigentlich nicht Lesen nennen konnte.
Die Lehrerin wurde wütend, als sie bemerkte, dass er kein Heft vor sich auf der Bank liegen hatte. Er hat es zu Hause vergessen, sagte er. In der Pause kaufte er sich eines und lieh sich einen Kugelschreiber. Aber er schrieb trotzdem nichts auf.
Bei dem Interview bei ihm zuhause kam dann heraus, dass er offenbar noch nie ein Schulheft besessen hat. Er sollte eines holen und es vorzeigen. Zuerst behauptete er, er finde keines. Dann gab er zu, dass er keines hat. Und Hausaufgaben hatte er in seinem kurzen Schülerleben auch noch nie gemacht.
Toussaints Lehrerin war mit ihrer riesigen Klasse völlig überfordert. Während ein Schüler dran war, zupften die anderen am Kleid der Nachbarin, drehten sich um und unterhielten sich mit den Kindern in der Bank hinter sich und waren überhaupt recht gesellig. In der Klasse herrschte ein Lärmpegel, der mich schon nach fünf Minuten verrückt gemacht hätte.
Dreimal stürmte die Lehrerin mit ihrem erhobenem Keilriemen in die Klasse und peitschte ein Kind ohne große Wucht. „Du warst laut!“, stammelte sie zur Begründung, so als ob sie selbst nicht recht daran glaubte, während doch die gesamte Klasse geschwätzt hatte. Und schon als sie wieder an ihrem Pult saß, waren die Kinder wieder genauso gesellig wie zuvor.
Kein Schüler hat sich während des Unterrichts etwas aufgeschrieben oder sich gar Vokabeln notiert. Die zerfledderten Französisch-Bücher sammelte die Lehrerin nach dem Unterricht wieder ein. Sie blieben in der Schule. Im nächsten Trimester, davon darf man ausgehen, werden die Kinder also wieder genauso gut lesen und genauso viel davon verstehen wie in diesem.
Und wie so oft in afrikanischen Schulen werden sie einfach weitergeschleppt werden - obwohl sie nie richtig verstanden haben, was ihnen beigebracht werden sollte. Aber darum ging es auch gar nicht. Es ging darum, dass die Kinder zur Schule gehen, weil sich das heutzutage so gehört, nicht darum, dass sie auch etwas davon haben. Es ging darum, so zu tun als ob, um Mimikry. Denn in der Richtigen Welt gibt es Institutionen wie Schulen, also muss es sie in Afrika auch geben.
Deshalb bemerkte man in Afrika so oft, wenn man etwas genauer hinsah, dass, wo Behörde, Partei, Kirche oder Schule draufstand, alles mögliche drin sein konnte, nur nicht das, was eigentlich draufstand. Nun ja, was will man machen! Geben muss es sie. Und wenn
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