After Moonrise (German Edition)
furchterregend. Diesen Typen durfte man nicht verärgern, verspotten, nicht einmal necken. Er würde es einem heimzahlen, keine Frage. „Wie viel von ihr hast du gemalt?“
„Alles bis auf den Kopf.“
„Ist sie brünett, blond oder rothaarig?“
„Woher soll ich …“
Sein eindringlicher Blick wanderte an die entsprechende Stelle, und sie begriff.
„Oh. Äh, ich weiß es nicht. Ihr Unterkörper wird vom Oberkörper des Mannes verdeckt.“
„Ist sie auf dem Bild lebendig oder tot?“
„Tot, glaube ich. “ Und wahrscheinlich froh, ihren Qualen entkommen zu sein.
Wieder legte sich Schweigen über den Raum, schwer und erdrückend, und erinnerte sie daran, warum sie eigentlich nicht hatte herkommen wollen. Sie hatte gewusst, dass er an ihr zweifeln würde – sie zweifelte ja manchmal selbst an sich – oder sie verdächtigen würde, selbst eine Rolle bei dem Mord gespielt zu haben.
Lana glaubte, dass die Frau wirklich echt war und Harper die Szene zufällig beobachtet hatte. Als Angestellte der Filiale von After Moonrise in Oklahoma City, einer Firma, die sich auf die Aufklärung grausamer Morde spezialisiert hatte mithilfe der Geister, die nach solchen Morden manchmal zurückblieben, sollte sie es wissen. Aber Lanas Überzeugung hatte nichts mit dem Bild zu tun, sondern damit, dass es zwei Wochen gab, an die weder Harper noch Lana sich erinnern konnten. Harper könnte mit diesem Mann und seinem Opfer gefangen gewesen sein, und irgendwie, wie durch ein Wunder, war sie entkommen.
Ihre Freundin hatte das Bild ihren Kollegen gezeigt, aber sie hatten den Fall nicht übernehmen wollen. Daraufhin hatte Lana sogar gebettelt – was in ihrem Fall bedeutete, dass sie ihnen fast den Schädel eingeschlagen hatte –, und sie hatten schließlich nachgegeben und gesagt, sie würden sich die Sache ansehen. Bis jetzt hatten sie nichts herausgefunden. Falls sie es überhaupt versucht hatten. Im Alleingang tat Lana, was sie konnte, aber da sie es eher gewohnt war, mit Geistern zu arbeiten als mit Leichen, handelte es sich nicht gerade um ihr Spezialgebiet.
Als Lana also erfahren hatte, dass ein Detective in ihrem Gebäude wohnte, hatte sie darauf bestanden, dass Harper sich zusammenriss und mit ihm redete.
„Das quält dich“, hatte sie mit ihrem litauischen Akzent gesagt, der je nach Stimmung kam und ging. Wenn es ihr gut ging, klang sie genauso amerikanisch wie Harper selbst. Kaum hatte sie Angst oder war wütend, war schon der Akzent da, sodeutlich, als wäre sie gerade erst aus dem Flugzeug gestiegen. In letzter Zeit war sie recht oft traurig, und damals hatte die Vorstellung, was Harper durchgemacht haben mochte, sie so betroffen gemacht, dass ihr die Zähne geklappert hatten. „Lass den Mann dir helfen. Das Mädchen … verdient Frieden, Ruhe. Bitte.“
„Ich kann nicht. Er wird denken, ich habe ihr selbst etwas getan.“
„Zuerst vielleicht, dann wird er die Wahrheit sehen … bitte, tu es für sie, tu es für dich, tu es für … mich.“
Und weil Lana zwei Wochen lang jede Nacht vor Kummer geweint hatte, weil sie, Harper, wegen der ganzen Sache so litt, war Harper bereit, alles zu tun, worum ihre Freundin sie bat, egal welche Folgen es für sie haben mochte.
„Harper. “ Das knappe Bellen von Levis Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Bist du noch bei mir?“
„Jetzt schon“, murrte sie. „Gibt’s deine Stimme auch in Zimmerlautstärke?“
Seine Mundwinkel zuckten, ein seltenes Zeichen dafür, dass er amüsiert war. Diese Belustigung verwandelte sein ganzes Gesicht. Die smaragdgrünen Augen funkelten, und kleine Fältchen bildeten sich in ihren Winkeln. Der Zug um seinen Mund wurde weicher, und seine Haut schien zu strahlen.
„Hast du so etwas schon einmal gemalt?“, fragte er.
„Nein. Ich liebe es, Menschen zu malen, aber nicht so. Niemals so. Was spielt das für eine Rolle?“
„Wenn es einmal passiert, könnte das tatsächlich heißen, dass du bei einer ähnlichen Szene Zeuge warst. Zweimal, und es ist wahrscheinlicher, dass dein Verstand das alles zusammengesponnen hat.“
Okay, das ergab einen Sinn. „Es war nur dieses eine Mal. Und nur damit du es weißt, ich kann keine Toten sehen, also waren es auch keine Geister, die mir eine Szene vorgespielt haben. “ Nicht wie Lana, die schon immer fähig gewesen war, in jenes andere Reich zu blicken.
„Ich muss mir dieses Gemälde ansehen, und außerdem brauche ich einen Überblick über den Rest deiner Arbeiten“, sagte
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